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Klaus von Schirach
Neun Texte vor dem Abflug. Erinnerungen


Hardcover Januar 2020
256 Seiten | ca. 12,0 x 19,0 cm
ISBN: 978-3-96014-656-8


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Der Autor ist der älteste Sohn des als Kriegsverbrecher im Nürnberger Prozess zu 20 Jahren verurteilten "Reichsjugendführers", und "Reichsstadthalters" in Wien, Baldur v. Schirach. Er schildert vorwiegend seine und seiner Familie Erlebnisse nach 45, als die vormals privilegierte Familie im "Orkus" verschwand, und die Mutter nach dem totalen Vermögensverlust, von der Flucht nach Tirol zurückkehrte, und mit vier unmündigen Kindern vor dem Nichts stand, um schließlich in einem Bauerndorf zu landen.

Die Mutter ließ sich scheiden, und etablierte sich in München als Filmverleiherin und Kinobetreiberin mit einem neuen, von den Kindern gehassten Lebensgefährten.

Der Autor berichtet über die vielen Schulen, die er besuchte, wobei er, neben einem charismatischen Lehrer, in die Herrschaft von zwei perversen Sadisten geriet, bis er schließlich in der Oberrealschule mit Internat „Hohenschwangau“ bei Füssen, und der Klassengemeinschaft eine „Ersatzfamilie“ fand, und den stets klassenschlechtesten Schüler der Deutsch - und Philosophielehrer „Moriz“ „entdeckte“, und den von Minderwertigkeitskomplexen gequälte Schüler bis zum „Einserschüler“ in Deutsch und Philosophie aufbaute, sodass er 1953 das Abitur schaffte.

Das wahre „Zuhause“ war aber die Aufnahme in der Familie seines ehemaligen Kindermädchens, und des Hausmeisterpaars in Kochel am See (Oberbayern). Der Nennopa Stangl hat ihn dabei geprägt, er erfuhr Wärme und Geborgenheit, welche ihm seine brillante, aber kalte Mutter nicht geben konnte.

Im Text schildert er - völlig unlarmoyant - die zehn Jobs, mit denen er sein Jurastudium finanzierte, vom Bergmann in Essen (ein Jahr), bis zum Waldarbeiter und Gerichtsreporter, aber auch die abenteuerlichen Reisen mit seinem Freund „Hasi“ per Rad und Anhalter durch Deutschland, Italien, in die Schweiz und schließlich nach Paris.

Der Vater wird in den letzten Tagen des Reiches in Wien, schließlich aber auch bei, und nach seiner Entlassung 1966 geschildert, als er seine Memoiren schrieb, die der Autor für eine Serie in der Zeitschrift „Stern“ mit Henri Nannen organisiert hatte, um den Lebensunterhalt des völlig mittelosen Strafentlassenen zu finanzieren.

Der Autor gründete 1960 eine Rechtsanwaltskanzlei in München, und war 50 Jahre erfolgreich als solcher tätig, die letzten 35 Jahre ausschließlich als Spezialist im Arzthaftungsrecht. 2002 zog sich der Autor vom Anwaltsgeschäft zurück, um Film -Drehbücher und Theaterstücke zu schreiben, von denen ein Teil in der edition winterwork unter dem Titel „5 Drehbücher und ein Theaterstück“ veröffentlicht wurden.

Der Autor lebt mit seiner Frau Natalia in München, und hat drei Töchter und 7 Enkelkinder. Von den Geschwistern leben noch zwei. In der großen Familie haben in den letzten Jahren acht Mitglieder Bücher veröffentlicht. Eine Geschichte der Schirachs erscheint in Kürze.
Das Ehepaar Henny und Baldur von Schirach

Ein Wort zur Ehe meiner Eltern, die ich als Paar zuletzt in Wien im Dezember 1944 erlebte. Damals war ich noch keine zehn Jahre alt. Vor Wien (also in der Zeit vor 1940) waren die Eltern selten zusammen, Vater war vollauf mit Beschlag belegt durch seine Tätigkeit in der »Reichsjugendführung«, die er mit Hitlers Einverständnis als »Staat im Staate« konzipierte (Ende 1932 hatte die »Hitlerjugend« 100 000 Mitglieder, 1934 waren es bereits 3,5 Millionen, 1939 über acht Millionen). Er hatte in Hitlers neuer Reichskanzlei in Berlin ein eigenes Büro, war aber eigentlich immer im ganzen Land unterwegs. Allerdings bestellte er seine Mitarbeiter oft auch auf den Aspenstein oder lud ausländische Delegationen verbündeter Staaten dorthin ein, die ähnliche Organisationen in ihren Ländern aufbauen wollten. An eine japanische Delegation kann ich mich gut erinnern, da sie uns riesige Papierfische mitbrachte, die man in den Wind stellen konnte.

Die Ehe meiner Eltern war von Liebe geprägt, das bekommt man atmosphärisch auch als Bub mit. Wenn Henny auf dem Aspenstein war und Vater unterwegs, wurde fast täglich stundenlang telefoniert. Meist stand ich neben dem Telefon und hörte, was Henny berichtete, bis sie mir schließlich den Hörer in die Hand gab.

Als Vater 1940 nach Wien beordert wurde, hatte Henny die (gerade in Wien sehr wichtige) Funktion der »First Lady« wahrzunehmen, was ihr – folgt man der Literatur zu »Schirach in Wien« (z. B. Walter Thomas: Bis der Vorhang fiel, einim Übrigen lügenhaftes Buch, oder Stefanie Hundehege in: Austrian Studies 25, 2018, herausgegeben von der Modern Humanities Research Association) – glänzend gelang. Sie war eine elegante Erscheinung, sehr taktvoll, zurückhaltend, charmant und vermied – wie Vater – jeglichen überheblichen »Piefke«-Ton, mit dem sich die vielen Beamten, die aus dem »Reich« kamen, bei den Wienern unbeliebt machten. Henny war in Wien als Ehefrau des »Reichsleiters« sehr beliebt.

Die Ehe meiner Eltern war allerdings vom Rollenbild der Dreißigerjahre geprägt, wonach Ehefrauen bei wichtigen Entscheidungen der dominierenden Männerwelt grundsätzlich nichts mitzureden hatten. Ich habe selbst oft erlebt, wie sich Henny, wenn die Männer etwas zu besprechen hatten, zurückzog (»Ich lass euch jetzt mal allein«) oder mit freundlichen Worten hinauskomplimentiert wurde (»Henny, lass uns jetzt bitte allein«). Henny hat das als Selbstverständlichkeit akzeptiert.

Sie hatte im »Dritten Reich« keinerlei Ämter inne und wurde in Wien in maßgebliche Fragen der Stadtverwaltung – wie das brennende Versorgungsproblem einer großen Stadt im Krieg, den Bau von Luftschutzkellern, die Installation von Warnsystemen vor anfliegenden Bombern oder die alles entscheidende Frage, ob Wien verteidigt werden sollte – nicht einbezogen, erst recht nicht in die Judendeportationen, die Vaters Verhängnis wurden.

Nach dem Zusammenbruch wurde Henny in der Jachenau bekanntlich mehrfach verhaftet und in das Tölzer Gefängnis gesperrt und schließlich in ein »NS-Frauenlager« in Göggingen verbracht, wo sie sich mit Emmy Göring anfreundete und die beiden für die Insassen des SS-Lagers nebenan Wäsche wuschen. (Ich habe sie im Lager einige Tage besucht, bin durch den Zaun gekrochen und wollte in der dritten Liga der SS-Fußball-Liga, die die Insassen in dem vollständig durchorganisierten Lager aufgebaut hatten, mitspielen.)

Henny wurde auch vor der Spruchkammer angeklagt, das war ein Sondergericht, vor das man auch Nazis der unteren Chargen stellte. Aus diesem Verfahren kam sie als »Minderbelastete« heraus, weil sie viele jüdische Zeugen aufbieten konnte, denen sie durch Intervention bei meinem Vater geholfen hatte, das Zeugnis der Familie von Richard Strauss, dessen Schwiegertochter Jüdin war, einbeschlossen.

In ihrem Spruchkammerverfahren, aber auch mir und der Familie und Freunden gegenüber, hat sich Henny stets darüber beklagt, dass sie nach 45 wie eine Kriegsverbrecherin behandelt wurde, obwohl sie in keine einzige »Männerentscheidung« einbezogen worden sei. Sie hätte sogar (wie mein Vater) eine Bestrafung als Kriegsverbrecherin akzeptiert, wäre sie an diesen Verbrechen beteiligt gewesen. Sie sei aber nie auch nur um ihre Meinung – etwa zur Judenvernichtung – gefragt worden, das waren Entscheidungen, zu denen mein Vater angesichts ihrer »Einmischung« höchstens gesagt hätte: »Das geht dich nichts an.« Dass sie einmal aus dieser Rolle sehr mutig in der »Berghofszene« heraustrat, hat meiner Meinung nach die Rollenverteilung in der Ehe eher noch zementiert. Ich bin, wie gesagt, davon überzeugt, dass Hennys »Fauxpas« Hitler gegenüber Vater empört hat (»Was geht dich das an!!!«).

Wahr ist aber auch, dass Henny zu den vielen Menschen gehörte, die sehr wohl eine Ahnung von den NS-Verbrechen hatten, aber gar nicht daran interessiert waren, wirklich zu wissen, was in den KZs und hinter der Front geschah. Ich kann mich an ein Gespräch erinnern (ich war damals acht Jahre alt), als sie einen Freund vom Bahnhof in Kochel abholte. Er kam aus Krakau und berichtete ihr über seine Beobachtungen. Ich vermute, es waren Schilderungen von Judenverfolgungen. Ich trottete neben den beiden her. Mutter hielt sich plötzlich die Ohren zu und wurde ganz laut: »Hans, hör auf, hör auf! Ich kann das nicht hören, das ist so entsetzlich!« Das war alles.

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