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Hannes Lange
Jugenderinnerungen
Ihre Jahre von 1920 - 1952 in Meißen

Taschenbuch Februar 2011
316 Seiten | ca. 14,8 x 21,0 cm
ISBN: 978-3-942693-66-0


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Hannes Lange, der Buchautor und Sohn von Ilse Lange, wurde 1954 in Meißen geboren.
„Meißner Sachse“ ist er geblieben, obwohl er heute am Mittelrhein lebt und arbeitet. Das vorliegende Buch entstand nach Originalaufzeichnungen seiner Mutter, die, zwar bearbeitet, dennoch weitestgehend den Erzählstil der „Alten Frau“ beibehalten haben. Die Erinnerungen sind in der Sprache der einfachen Leute geschrieben, voller Herz, voller Güte und vor allen Dingen voller Humor.
Sie selbst schreibt dazu: „Ich schreibe so, wie mir der Schnabel gewachsen ist…“ Ihre Lebensfreude kam selbst in der schweren Zeit nie zu kurz, Ihr Gottvertrauen war unerschütterlich. Wer Ilse Lange kannte, wird sie durch das Buch noch besser kennenlernen, aber nicht nur die Person, sondern auch ihre Stadt – Meißen.
Ihre Aufzeichnungen sind „Zeitzeugenberichte“, und manch Meißner Bürger wird sich selbst oder wenigstens nahe Angehörige und Freunde namentlich verzeichnet sehen. Und vielleicht sind Sie dabei…?
Für Vergewaltigungen gab es weiterhin, auch auf die Gefahr hin, erwischt zu werden. Der Krieg hatte aus den Menschen regelrechte Kampfmaschinen gemacht, bar jeder menschlichen Regung. Angst kannten sie scheinbar nicht. In der Nachbarschaft wurde am hellen Tag eine junge Frau im Hausflur von zwei Russen vergewaltigt. Sie schrie zum Steinerweichen. Das störte die Soldaten nicht, aber eine Streife hörte das Geschrei. Plötzlich stand ein Armeelastwagen vor der Tür, ein Offizier stieg aus, mehrere Soldaten sprangen von der Ladefläche. Der Offizier war völlig ruhig, er zeigte mit der Hand nur auf die Haustür. Daraufhin zerrten die Posten die beiden Vergewaltiger auf die Straße, dort begannen sie, ihre Kameraden auf einen Wink des jungen Offiziers hin regelrecht systematisch zu zerschlagen. Am Ende lagen nur noch zwei Haufen blutiger Masse auf der Straße. Diese wurde wie Säcke auf den Lastwagen geworfen, dann sprangen alle auf das Fahrzeug und fuhren ab.

Uns traf es auch noch ein paar mal. Einmal kamen gleich drei Russen zu uns in die Wohnung, zwei Soldaten und ein Offizier. Diesmal waren sie zur Abwechslung durch die Tür gekommen. Kaum standen sie im Wohnzimmer, riefen sie: „Ah, Kapitalisti“. Fast hätten wir lachen müssen, wenn es nicht so ernst gewesen wäre. Ausgerechnet wir sind „Kapitalisten“. Wie musste es bei ihnen daheim aussehen, wenn sie unsere Armut für Reichtum hielten. Die beiden „Muschiks“ benahmen sich wie ungezogene Lausejungen, jede Schranktür, jeder Schieber wurde geöffnet und durchwühlt und der Inhalt auf den Boden geworfen. Dann trampelten sie mit ihren dreckigen Stiefeln noch darauf herum. Mitgenommen haben sie nichts. Wir waren wohl doch keine „Kapitalisti“. Der Offizier winkte Trudchen zu sich heran. Ängstlich kam sie näher, das Schreckliche war ja erst vor ganz kurzer Zeit geschehen. Aber er fragte sie nur in recht ordentlichem Deutsch: „Du können Klavierspielen?“ „Ja“, antwortete meine Schwester sichtlich erleichtert. Schnell hatte sie sich auf den Hocker gesetzt, den Deckel geöffnet und begann zu spielen. Der Offizier hat ganz andächtig danebengesessen und zugehört. Die beiden Soldaten stöberten inzwischen weiter herum. Endlich entdeckten sie einen Tragekorb, den sie bisher übersehen hatten. Mit diesem Korb ist meine Mutter trotz Verbotes immer zum Elbschlösschen marschiert, durch das kaputte Flurfenster geklettert und hat aus der baufälligen Ruine unserer ehemaligen Wohnung geholt, was immer sie tragen konnte. So sind wenigstens einige Erinnerungsstücke erhalten geblieben, unter anderem die für uns wertvollen Fotoalben.
Ganz unten im Korb lagen eine kleine Speckseite und eine Dauerwurst, sorgfältig vor den Brückenposten, die mehr oder weniger strenge Kontrollen machten, versteckt. Die Speckseite sollte im Notfall als „Brückenzoll“ dienen, die Wurst war unsere eigene „eiserne Reserve“. Jetzt strahlten die beiden Russen, hatten sie doch endlich gefunden, wonach sie suchten. Das war etwas anderes zu futtern als ihr „Armeefraß“. Und Hunger hatten zu der Zeit alle, egal ob Sieger oder Besiegte, er tat allen Menschen gleich weh. Unsere Mutter bat den Offizier, die Sachen doch wieder zurücklegen zu lassen, sie zeigte auf die Kleinen und sagte mit flehendem Blick: „Kinder haben Hunger.“ Aber der Offizier zuckte nur mit den Schultern, sagte: „Hitler kaputt, ihr Krieg verloren – ich nichts können machen!“ Die Soldaten mit Speck und Wurst, der Offizier mit den Ohren voll Musik – so sind sie abgezogen. Meine Zöpfe und mein Aussehen (ich ging immer für jünger durch, als ich in Wirklichkeit war) haben mich vor manch böser Erfahrung bewahrt. Außerdem ging ich selten auf die Straße, und wenn, dann nur mit einem Kopftuch.

Die Pontonbrücke war der einzige Weg über die Elbe. Die Pontons lagen auf Kähnen, in jedem Kahn standen russische Posten, einer rechts und einer links, sie machten sich oft einen Spaß daraus, die entkräfteten Menschen anzutreiben, vor allen Dingen die Älteren. Wenn die Leute dann stürzten, löste das große Heiterkeit aus und die Russen schossen vor Freude und Übermut in die Luft. Das vermehrte das Chaos natürlich noch mehr.
„Schneller, Faschisti, dawei, Hitler kaputt, schneller, dawei, Deitsche“, es klingt mir heute noch in den Ohren. Unsere Mutter hat den Weg anfangs mehrere Male am Tag zurückgelegt, bis im Elbschlösschen nichts mehr zu holen war. Es ist viel geklaut worden, die Ruine war ja offen für alle und die Not war groß. Was man selbst nicht brauchen konnte, war zum Tauschen und für den aufkommenden „Schwarzmarkt“ immer noch gut genug. Mutter war bei den meisten Posten wohl schon bekannt, ihr haben sie nie etwas getan. Meine Mutter hatte durch die Tragegurte des schweren Korbes richtige blutunterlaufene Striemen über den Schultern, so hat sie sich geschunden, um noch etwas zu retten. Helfen durften wir ihr nicht, das sei zu gefährlich. Das würde sie niemals zulassen. Da hatte man keine Chance, dagegen kam keiner an. Lange ging das auch nicht mehr, dann war nichts mehr zu holen. Anfangs ist oft unser Onkel Edel mitgegangen und hat mit Brettern und langen Nägeln den Einstieg vernagelt, ein hoffnungsloses Unterfangen, wie sich bald herausstellte. Jedes Mal, wenn sie wieder am Elbschlösschen ankamen, waren nicht nur die Bretter gestohlen, nein, auch die Nägel waren fort. Da haben sie die ganze nutzlose Aktion recht schnell aufgegeben. Einmal kam sie zu unserem ehemaligen Wohnhaus, da hatten sich Polen, ehemalige Fremdarbeiter und Häftlinge, in unserer Wohnung eingerichtet und wollten meine Mutter nicht hineinlassen. Schnurstracks ist Marie zum Bahnhof geeilt und mit einem „Schutzmann“ wiedergekommen, in Zivilkleidung, nur mit einer roten Armbinde „bewaffnet“. Trotzdem haben die Polen vor der „Staatsmacht“ Respekt gehabt und meine Mutter konnte ihren Korb voll packen. Sie ahnte wohl schon, dass es das letzte Mal sein würde, dass sie noch Verwertbares holen kann, deshalb hat sie den Korb richtig vollgepackt. Sie hat Recht behalten, anderntags waren die Polen zwar weg, aber auch alles noch irgendwie Brauchbare, vieles war mutwillig zerstört worden, sicher aus Rache für das „Polizeiaufgebot“.
Vor den Polen, die wieder in ihre Heimat wollten, hatten alle Angst. Ihnen war jedes Mittel recht, sie schreckten auch vor Mord und Totschlag nicht zurück, um ihr Ziel zu erreichen. Hieß es noch vor kurzer Zeit: „Das sind nur Polacken“, hieß es nun „das sind nur Deitsche und Nazischweine.“ Die Russen ließen sie gewähren, nur bei ganz krassen Zwischenfällen griffen sie ein, mehr zögerlich als entschieden. Was Deutsche gerade den Polen angetan hatten, fiel nun auf uns zurück. Diese entwurzelten Menschen zogen marodierend und plündernd durch die Städte und Dörfer, sie stahlen alles, was ihnen unter die Finger kam. Sie betrachteten das wahrscheinlich als ihr gutes Recht und eine Art „Wiedergutmachung“. Besonders begehrt waren Transportmittel jeglicher Art, um die geklauten Sachen transportieren zu können. Ich habe es selbst gesehen, wie Polen einer jungen Frau mitten in der Stadt unter den Augen einer russischen Streife das Baby aus dem Kinderwagen nahmen, es ihr in den Arm drückten und unter dem Gelächter der Russen mit dem Wagen fortzogen, eine weinende und verzweifelte Mutter zurück lassend. Für diejenigen, die es unmittelbar betraf, waren solche Vorkommnisse sicher besonders hart und nicht zu begreifen, aber was hatten die Deutschen gerade den Polen angetan? Immer mehr erfuhren wir, wie unsere Landsleute in diesem Land gehaust hatten. Dass uns heute mit den Polen wieder Freundschaft verbindet, ist eins der großen Wunder der Geschichte und macht Hoffnung auf die Zukunft.

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