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Jürgen Scholz
Unterwegs
Geschichten von der Straße ins (Tage-)Buch

Taschenbuch August 2019
321 Seiten | ca. 12,0 x 18,0 cm
ISBN: 978-3-96014-607-0


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Je einsamer die Landstraßen, desto lauter summt der Wind in den Speichen. Was einst als Plan im Kopf begann, wurde 2017 in die Tat umgesetzt. Mit dem Fahrrad um die Welt.

Fast ein ganzes Jahr ist Jürgen Scholz im Sattel unterwegs. Von Leipzig, seiner Heimatstadt, radelt er durch Deutschland, über Frankreichs Atlantikküste, quer durch Spanien und Portugal, um dann zur letzten Etappe nach Indien zu starten. Allein unterwegs genießt er einzigartige Landschaften und aufregende Metropolen, sammelt unzählige wertvolle Erfahrungen, trifft faszinierende Menschen und erfährt dabei überwältigende Gastfreundschaft und Menschlichkeit. Dabei leisten die Schutzengel – vor allem auf den Straßen Indiens – ganze Arbeit.

Nach über 12.000 Kilometern im Sattel kehrt er glücklich zurück in seine Heimatstadt, die Packtaschen voller Abenteuer.
Varanasi – verzaubert – entzaubert

Für die Hindus ist Varanasi die heiligste aller Städte. Empfangen werde ich wie überall laut, schrill, überaus chaotisch. Alle 50 Meter wieder ein Selfie mit dem Radler aus Europa. In ihren Gedanken bin ich sicher die Reinkarnation eines ehemaligen Rikschafahrers.
Über Jahrtausende fließen die Pilgerströme in die uralte Stadt am Ganges. Jeden Morgen steigen Hunderte in die Fluten zu einem rituellen Bad. Warum? Klar, wieder sollen alle Sünden vergessen werden. Nicht nur Leichen werden im Fluss gereinigt. Die Wäsche, Pullover, die Tiere – alles. Ein komplettes Leben mit sämtlichen Facetten spielt sich am Fluss ab. Ein ineinander verwobenes Leben.
Die hinduistische Lebensphilosophie besagt, dass jeder Mensch, jedes Tier ein unsterbliches Selbst ist, das in einem ewigen Kreislauf gefangen bleibt. Stirbt der Mensch, so geht Atman, seine Seele, in eine neue Daseinsform über. Es gelten Regeln und Pflichten, die einzuhalten sind.
Die beste Regel ist die, weder Mensch noch Tier Gewalt anzutun. Das von mir schon viel strapazierte Karma zieht am Lebensende Bilanz. Es entscheidet, in welche Existenzform der Gläubige nach dem Tod übergeht. Wer demzufolge viele schwere Sünden – Verkaufen der Ehefrau, Nichtteilen von Süßem! – auf dem Konto hat, wird in der Hölle büßen und somit in einer niederen Kaste wiedergeboren. Bei gutem Karmastand – ich sammle fleißig weiter – folgt der Schritt in die höhere Kaste. Noch besser: Man kann in den Status eines Gottes aufsteigen. Ich rechne schnell nach, mein Guthaben ist gewaltig. Allein zwölf Jahre lang habe ich als Rettungsassistent nur Gutes getan.
Der heilige Ganges, die Mutter Indiens, fließt langsam dahin. Für viele ein guter Platz zum Sterben. Es gibt sogar Hotels für Sterbende. Gut versteckt vor westlichen Augen.
Allseits bekannt ist, dass Türen durch Ziehen oder Drücken geöffnet werden. Hier vor Ort öffnet ein Bakschisch in angemessener Höhe alle Türen. Ich darf schauen. Es gibt Schlafsäle mit Hunderten Betten, nein Schlafstätten, teilweise Pritschen, aber auch Strohlager. Viele spüren, dass ihre Zeit sich dem Ende zuneigt. Begeben sich in diese Unterkünfte. Warten auf den Tod. Zum Teil mit einem imponierenden Timing. Vierzehn Tage lang ist die genehmigte Verweildauer in den Quartieren. Wer den Tod länger hinauszögert, muss raus.
Der Anblick, der sich mir bietet, ist echt. Ohne Photoshop, Weichzeichner oder Retuschen. Ich entscheide mich für eine mehrere Stunden dauernde Sitzbesichtigung. Die schwer beladenen Sünder legen ihre Kleidung, teilweise Lumpen ab, um im Lendenschurz in den Fluss zu steigen. Große, Kleine, Dicke, Ausgemergelte, Langhaarige oder Kahle steigen in den Fluss. Murmeln Gebete, trinken vom heiligen Safte, tauchen unter. Ein beeindruckendes Ritual, gleichzeitig von Hunderten vollzogen. Keiner kommt dem anderen in die Quere.
Sünde wie auch Versuchung muss im Heiligen Land sehr weit verbreitet sein. Tausende nutzen das reinigende Bad gleich mehrfach. Bei der Wasserqualität sterbe ich lieber in der Hölle beziehungsweise durchlebe die Wiedergeburtsreihenfolge als Hund, Katze, Maus. Für die Pilger der makelloseste Ort im Universum. Für Leute ohne religiöse Brille die reinste Klärgrube. Die Badenden interessieren die Gegebenheiten nicht.
Wer sich eine Verbrennung nicht leisten kann, wird mit guten Worten versenkt. Um den Kreislauf zu unterbrechen und sofort die Seligkeit zu erreichen. Und doch fasziniert die Aufeinanderfolge vom Beginn bis zum Vergehen. Nach dem Tod setzt der Fäulnisprozess ein. Das Bakterium Clostridium Botulinum zersetzt Eiweiße. Dabei werden Gifte produziert. Vermengt mit Milliarden Litern ungeklärten Abwässern ergibt sich eine Mischung, die erstaunlicherweise wenig Menschen sofort sterben lässt. Der Fluss ist ja eine Göttin, kein Mensch kann sie jemals verschmutzen. Einen Tempel allerdings mit Schuhen oder unsauberen Füßen zu betreten – unmöglich.
Mein unter Beobachtung stehender Sadhu taucht aus den Fluten wieder auf. Teilweise kleben Müllbeutel, Dreck, Abfallreste an seinem Körper. Ein nochmaliges Abtauchen löst dieses Problem. Stört nur den Europäer. Die unsichtbaren Krankheiten ereilen die Sünder später.

Für Zartbesaitete ist auch der dominante Lautstärkepegel schwer zu ertragen. Sämtliche Membrane der Lautsprecher vibrieren wie die Flügel des Kolibris. Vielleicht haben alle Inder von Geburt an einen Hörschaden, der sich durch die permanente Beschallung nie erholen wird.
Leider bin ich wieder am Meckern. Es ist eine Schande für Indien – Indien, eine Atommacht, führend in der IT-Branche. Nicht nur am Ganges, fast alle Abwässer fließen ungeklärt in die Gewässer. Hinzu kommt die Verunreinigung durch Müll, der sichtbar noch obenauf schwimmt.
Beeindruckend, wie Indien auf mich wirkt. Wenn die Erde nicht vor der Sonne untergehen soll, muss schleunigst gehandelt werden. Irgendwo hier in der Stadt brennt die Flamme der Erkenntnis. Buddha begann ganz in der Nähe nach seiner Erleuchtung zu predigen. Mögen die Menschen ihn erhören. Ich suche derweil nach einem neuen Buddha. Einen mit einer grünen Gesinnung.
Trotz all der Ungereimtheiten kann ich mich der Atmosphäre der Stadt nicht entziehen. Verteilt über die gesamte Altstadt, die Ghats, die zum Gewässer hinunterführen. Auf den Treppen spielen sich die Vielfalt und die Widersprüchlichkeit des indischen Lebens ab.
Meditation, Leben, Geburt sowie der Tod. Die Krönung ist die Einäscherung auf den offenen Scheiterhaufen. Die Toten werden nicht von Tränen begleitet, sondern beneidet! Hier zu sterben ist das Größte. Der Zug ins Nirwana fährt direkt hier vor Ort ab.
Ich versuche, die unerklärlichen Gedanken beiseitezuschieben. Nur so kann ich in das atemberaubende Flair, in das Feeling eintauchen, alle Momente genießen, fasziniert mit großen Augen und offenem Mund.
Alles passiert gleichzeitig, auf engstem Raum, für europäische Augen unfassbar. Ich kann alles sehen, fühlen und riechen. Zeitweise bin ich bis ins Innerste aufgewühlt.
Die uralten verschlungenen Gassen in der Altstadt sind so eng, dass eine einzige Kuh mich jedes Mal die Richtung wechseln lässt. Ein unaufhörlicher Passantenstrom fließt oder blockiert. Es wird geschoben und gedrängelt. Affen turnen über den Köpfen. Händler bieten schreiend ihre Waren an.
Jeder zweite Inder kaut auf Päckchen der Betelnuss herum. Es gibt über 30 verschiedene Arten. Unartig, das auszuspucken. Alle zehn Meter kommt eine durch die Betelnuss rot gefärbte Aule geflogen. Die roten Stellen wechseln sich schön mit den Kuhfladen und dem allgemeinen Müll ab.
Die Luft glüht, trotz all des Trubels herrscht eine absolute Ruhe, wenn man sich einmal darauf eingelassen hat. An einem Ort herrscht himmlische Ruhe, Sekunden später fühlt sich alles wieder wie überbelichtet an. Jeder Schritt, jede Bewegung, jede Regung. Alles geschieht in einer absoluten Selbstständigkeit. In dem Moment des Eintauchens ist Indien faszinierend, verteilt großzügig indisches Feeling.
Für alle, die auf meinen Pfaden wandeln wollen: In den Altstadtgassen niemals durch die Nase atmen. Das versaut die Erinnerung. Am Ufer gönne ich mir eine Fußreflexzonenmassage. Nach zehn Minuten tauche ich in eine vollkommene Glückseligkeit ein. Keine 100 Meter weiter folgt eine Ganzkörpermassage. Angelockt von einem spitzbübisch grinsenden Schlitzohr. Für sagenhafte zehn Rupien bekomme ich eine halbe Stunde lang eine Massage. Schon der Griff an meine Schulter, um seine Dienste klar zu machen, zeugt von Kraft und Durchsetzungsvermögen. Ringsherum läuft alles wie bisher, niemand nimmt Notiz von dem Geschehen. Bis auf den nächsten Beutejäger.
Unbedingt müsse er mir meine Zukunft aus der Hand lesen. Dass ich die nicht wissen will, interessiert ihn wenig. Da ich mich jetzt auf den Bauch legen muss, löst sich meine Zukunft in Luft auf. Die Massage kostet letztlich nicht zehn, sondern 100 Rupien. Er muss sich vorher wohl versprochen haben.
In Hochstimmung suche ich den Swami mit dem Monster Lingam. Sagenhafte 40 Kilo soll er mit seinem Glied verbinden und anheben können. Vielleicht ist es besser, dass er gerade nicht verfügbar ist. Die Phantomschmerzen müsste ich dann ertragen, und nicht er mit seinem Phallus.
Einige der Sadhus agieren unverschämt aufdringlich, teilweise rabiat. Genau wie die Bootsmafia. Allesamt Schlitzohren. Profis im Geschäft um die Touristenrupien. Sie ziehen sämtliche Register, um die Besucher auf den Fluss in ihr Boot zu lotsen. Ich blicke in ein abwartend aufdringliches Antlitz. Selbstsicher strahlt der Inder eine entwürdigende Aufdringlichkeit aus. Junge, von dir hole ich mir ein paar Rupien. Wenn nicht sofort, dann zum Sonnenaufgang beziehungsweise am Abend zu Beginn der Zeremonien.
Was denkt eigentlich ihr Gott, wenn sein Bodenpersonal derart dreist unterwegs ist? Ich schaue vom Ufer in den vom Smog verdeckten Sonnenball. Mit einem Chai in der Hand nicht weniger schön als vom Boot aus.
An den Ghats präsentiert sich Indien in seiner ganzen Vielfalt. Es brodelt ein unentwirrbares Gemisch aus Unwahrscheinlichem und Alltäglichem. Wo die Leben beherrschende Spiritualität derart nah an einen herantritt. Stimmungsvolles Licht umrahmt die Pilger bei ihrem morgendlichen rituellen Bad. Irgendwo stand geschrieben: „Heiliges Irrenhaus“, das ist für mich auf den Punkt gebracht. Neben den Badenden strömen etliche Menschen mit leuchtenden Messingtöpfchen oder kleinen Plastikkanistern zum Wasser. Füllen die Gefäße mit der heiligen Brühe. Was später damit geschieht, erfahre ich leider nicht.
Unter eigens gezimmerten Palmenschirmen sitzen selbst ernannte Astrologen, bieten ihre Dienste an. Die Summe der gezahlten Rupien bestimmt die Zukunft. Ich investiere 100 Rupien. Meine Zukunft stellt jedes bisher geschriebene Horoskop in den Schatten. Gott wird mich, den Evolutionsgläubigen, begeistert bei sich aufnehmen, um mich nach entsprechender Ausbildung als Heiligen zurückzuschicken. Na ja, es könnte mich deutlich schlechter treffen. Ich frage noch höflich, was denn später mit den Mädels laufen könnte. Seine Antwort gibt Hoffnung: „Sie liegen den Göttern zu Füßen.“ Perfekt für den Anfang würde mir Kino, Theater, Essen gehen, danach schön vögeln vollkommen reichen. Darauf findet er jetzt gerade keine Antwort. Ich müsse nochmals wiederkommen. Erst morgen geben die Sterne bereitwillig Auskunft.
Auffällig viele europäische Gesichter unter den Scharlatanen. Alle offiziell konvertiert, um in Gottes Nähe zu sein. Die Wahrheit liegt sicher woanders. Die finanziellen Einnahmen übersteigen den Hartz IV Satz. Und das, ohne sich Ausreden für das Arbeitsamt aus den Fingern zu saugen. Alles im Namen eines Gottes.
Brahmanen mit dicken Bierbäuchen sitzen neben Yogis, die, dürftig in orangefarbenen Stoff gehüllt, vollkommen unberührt von dem Trubel um sie herum miteinander diskutieren. Sadhus mit grauer Asche, lückenlos bepudert, thronen neben zahlreichen Bettlern. Wer sich treiben lässt, nur beobachtet, der sammelt unvergessliche Bilder im Kopf.

Einen weiteren Stopp lege ich am Wasch-Ghat ein. Ein Sünder taucht komplett ein. Nach einer gefühlten Ewigkeit auch wieder auf. Im nächsten Schritt wird seine Kleidung einem Waschprogramm unterzogen. Alles gründlich, mit Kernseife, soweit ich das aus der Ferne erkenne. Die Klamotten werden gründlich mit der Seife eingeschrubbelt. Hemd für Hemd wird dann auf den Steinen sauber geschlagen. Zum Schluss werden mit einer in Europa üblichen Zahnbürste die noch verbliebenen Beißerchen gereinigt. Die Prozedur wird nicht nur von mir argwöhnisch beobachtet. Auch ein Brahmane aus der Umgebung wirft aus seinem mit Asche bedeckten Haupt immer wieder einen Blick auf den Sünder. Er kontrolliert, ob die Puja – Ehrerweisung einer Gottheit – korrekt ausgeführt wird.
Bei meiner ersten Stippvisite in Varanasi 2008 haben mich die Eindrücke übermannt. Nur Bruchteile konnte ich aufnehmen, speichern und verarbeiten. Nie wird die Gegenwart mit der Erinnerung mithalten. Die Gründe liegen auf der Hand. Ich werde älter, nehme vieles nicht einfach mehr als gegeben hin. Damals. Der Teil des Lebens ist vorbei.
Sekunden später schlägt die Realität zu. Meine weit gereisten Augen erblicken einen optisch ansprechenden Sadhus im leuchtend orangefarbenen Gewand mit einem Dreizack in der Hand. Das Messingtöpfchen baumelt herum. Sein Gesicht ist schöner bemalt als jeder Indianer in jedem der Winnetou-Filme. Mehrfach muss ich hinschauen. Kann das wahr sein? Aus seinem Gewand zieht er ein Smartphone hervor. Tippt, liest, blättert, telefoniert. Mit wem wohl? Ist es Brahma, der Oberpriester persönlich? Holt sich der Sadhus die Anweisungen direkt von Gott? Oder ist es doch nur die Mutti, die ihn zum Essen ruft?
Ein klein wenig steigen Zweifel in mir hoch. Die Herren opfern ihr Leben der Spiritualität mit voller Hingabe. Telefonieren, wenn niemand hinschaut, mit einer Prepaid-Karte. Das ist Indien. Ein Ethnologie-Professor würde mir sicher erklären, dass man es bewundern solle, wie Althergebrachtes, der Glaube, mit der Moderne verbunden werden kann. Mir raubt es leider die Faszination. Mich beschleicht das Gefühl, doch noch nicht kulturell angepasst zu sein.
Um wieder einzutauchen, laufe ich zum Dasashwamedh Ghat. Genau an dieser Stelle hat Brahma zehn Pferde geopfert, um damit eine drohende Dürre abzuwenden. Jeden Abend untermalt im immer gleichen Ablauf eine Zeremonie die Bedeutung dieser Stelle. Betörende Gesänge neben zahlreichen Räucherstäbchen und Töpfen mit qualmender Holzkohle sowie nicht enden wollende Glockengeläute prägen das Bild. Ich frage mich, was passiert, würde Meister Brahma plötzlich aus dem Wasser auftauchen. Auf einer haushohen Ratte sitzend. Werden die betenden Leute versteinert? Laufen sie weg, da sie es selbst nicht glauben können? Gibt er ihnen ein Getränk aus? Vielleicht spuckt er auch nur Feuer, weil er sich in dem Dreckwasser an einer halb verbrannten Leiche verschluckt hat.
Vor mich hinträumend werde ich angesprochen. Die üblichen Fragen nach dem Woher und Wohin. Und dann das Unmögliche. „Möchtest du ein Bier?“ Diesmal werden meine Augen größer. Ein Kribbeln im Bauch, reine Vorfreude stellt sich ein. „Ja, sicher, gerne! In der Heiligen Stadt? Alkohol steht doch hier auf dem Index? Ist verboten.“
„Kein Problem.“
„Okay, ich möchte gleich zwei Flaschen.“
„Gerne. Du musst allerdings sofort bezahlen. Ich bringe das Bier dann hierher.“
Wider alle Vernunft bezahle ich im Voraus. Der Gedanke an ein kühles Bier lässt alles andere vergessen. Nach gefühlten zwei Stunden – es waren ungefähr 30 Minuten – überkommen mich erste Zweifel. Kurzes Rechnen. Der Verlust ist nicht existenzbedrohend. Nach weiteren langen zehn Minuten steht der Junge freudestrahlend neben mir. In der Hand eine Tüte mit zwei Flaschen Bier. Voller Glückshormone stecke ich ihm noch ein Trinkgeld zu. Dann der Moment. Ich entferne den Korken mit einem lauten Plopp vom guten indischen Kingfisher Bier. Zwei Sekunden lang bleibt das Bier in meinem Mund, mit einem lauten „Ähhh“ sprudelt eine Fontäne Richtung Wasser. Das Bier hat die gleiche Temperatur wie die Luft. Wer schon einmal 35 Grad warmes Bier probiert hat, kann nachvollziehen, dass sich meine Glückshormone blitzartig zurückgezogen haben. Über eine Stunde stelle ich die Flaschen in den Fluss in der Hoffnung auf kühlende Wirkung. Allein der Gedanke, alles wird gut, in Deutschland bekomme ich wieder kaltes Bier, hindert mich an der Selbsttötung.

Überall treffe ich auf Reste von alten Palästen. Verkommen, verdreckt, offene Abflussrohre, aus denen der Schmodder ungehindert die Wände herunterlaufen kann. Aus allen möglichen Ritzen und Vorsprüngen wächst Grünzeug, mit dem die Affen spielen. Ich nehme meine gesamte Fantasie zusammen, versetze mich 300 Jahre zurück. Was für eine Stadt! Die Ausstrahlung von Glanz, Reichtum und Spiritualität. Gaukler, Wäscherinnen, Maharadschas, Bettler, alle leben an und auf den Ghats. Handwerker sämtlicher Couleur bieten ihre Dienste an. Chai- und Chapati-Verkäufer rennen durch die Reihen, immer auf der Suche nach Kunden. Durch die Fensterschlitze beobachten die leider eingesperrten Haremsdamen das bunte Treiben. Lachen, tauschen untereinander ihre geheimsten Wünsche aus.
Zurück aus den Träumen stehe ich etwas verloren in der Wirklichkeit herum, werde sofort umringt. „Möchtest du ein Boot mieten?“
„Nein, danke.“
„Dann besuche meinen Shop, ich verkaufe feinste Seide.“
„Nein, danke.“
„Okay, wo schläfst du? Ich habe auch Zimmer zu vermieten.“
„Nein, danke.“ Nur durch Flucht kann ich mich entziehen und lande in einem nepalesischen Holztempel. Irre, sofortige Ruhe tritt ein. In dem Getümmel strahlt der Tempel eine Erhabenheit aus, dass man denkt, der Dalai Lama höchstpersönlich sitzt im Inneren und sorgt für Ruhe. Beim Betrachten der erotischen Schnitzereien denke ich an die vielen unbefriedigten Haremsdamen. Ach ja, schön muss es gewesen sein. Direkt vor dem Tempel befinden sich weitere Wasch-Ghats. Nicht mehr so überfüllt wie vor zehn Jahren. Sicher enthält die Mitgift heutzutage auch gelegentlich eine Waschmaschine. Spektakulär das Wäscheaufhängen, ohne Klammern zu benutzen. Es werden einfach zwei Wäscheleinen miteinander verschlungen. In die Lücken wird je ein Zipfel der Hemden und Saris geklemmt.
Der größte Andrang herrscht am Jallahsay Ghat. Hier werden, für alle sichtbar, die Einäscherungszeremonien zelebriert. Verstörend ist der Ablauf für europäische Augen. Fasziniert von der vollkommen fremden Kultur versucht man, die Zeremonie zu begreifen. Alle treten hier ihre Reise in den Kreislauf der Wiedergeburten an. Aufpasser setzen rabiat das Fotografierverbot durch. Zehn Schritte weiter steht ein Schlitzohr und bietet seinen Balkon „very cheap“ für 100 Rupien an. „Best view.“ Moralische Bedenken? Fehl am Platz. Auch sehr viele Einheimische setzen sich nahe an das Ghat, beobachten das Treiben, teilweise ihre eigene Verwandtschaft.
Verbrannt werden darf nur, wer auf natürliche Weise verstorben ist. Die alljährlichen 150.000 Verkehrstoten und die Opfer von Kriminalität haben keine Möglichkeit, vom Kreislauf der Wiedergeburt erlöst zu werden. Wie im realen Leben entscheidet der Geldbeutel auch hier über die Art und den Standort des Scheiterhaufens. Im oberen Bereich werden nur die heiligen Brahmanen verbrannt. Selbst die Qualität des Holzes auf dem Scheiterhaufen ist sichtbar hochwertiger als jenes der Unberührbaren unmittelbar am Flussufer.
Die Leichen sind farblich deutlich zu unterscheiden. Männer werden in weiße Laken gehüllt, Frauen mit bunten Tüchern bedeckt. Angehörige tauchen den Verstorbenen kurz in das heilige Gangeswasser. Angelehnt an die fünf Elemente wird der Leichnam vom ältesten Sohn fünf Mal umrundet. Auf die lange Reise gibt es noch etwas Reis sowie ein paar Münzen obendrauf.
Ungefähr drei Stunden – ich sitze dabei – brennt ein solcher Scheiterhaufen. Ist nur noch Asche übrig, schlägt das indische Feeling wieder zu. Unbeeindruckt von allem stehen hüfttief Männer und Kinder im Fluss. Im Schlamm wird mit Gartenharken versucht, die Münzen, Ketten und Goldzähne wieder herauszufischen. Der erste Schritt zur ökologischen Wiederverwertung.
Frauen sind von der Zeremonie ausgeschlossen, rings um das Ghat sehe ich nicht ein weibliches Wesen. Trauer kommt nicht zum Tragen. Mitfühlend sieht hier niemand aus. Bei der Mimik von Lachen oder Trauer reicht das Spektrum der Emotionen auf einer Skala von eins bis eins Komma eins. Nicht eine einzige Träne wird vergossen. Überhaupt steht den Indern nur eine begrenzte Palette an Gesichtsausdrücken zur Verfügung – um genau zu sein, eine. Ausschließlich die Hingabe des wahrhaft Gläubigen an den Willen des einen Gottes zählt, unbegreiflich für Außenstehende. Wie nahe ich an Gott wohne, erzähle ich den Jungs nicht. Im Dachgeschoss bin ich zwar immer noch unterhalb von Gott, aber deutlich näher dran als alle, die sich hier in die Fluten stürzen.

Am Abend – die Sonne taucht alle Dinge in magische Farbtöne – lasse ich mich zum Vishwanath-Tempel bringen. Bei den Einheimischen und in einschlägigen Reiseführern gilt er als der Goldene Tempel. Hinein dürfen wieder nur Hindus. Schnell ist ein eifriger Reiseführer zur Stelle. Er bringt mich auf das Dach eines der umliegenden Häuser, damit ich von dort einen Überblick erhalte. Liebend gerne wäre ich an den Brunnen der Weisheit herangetreten, um mir zwei volle Eimer zu schöpfen. Auch der Shivalingam soll in dem Brunnen liegen. Lust, Geilheit, gepaart mit Weisheit? Ist dies das Optimum des Irdischen?
Mit einer Rikscha fahre ich zum neuen Vishwanath-Tempel. Der ist für Touristen. Es ist eine originalgetreue Kopie. Nur das heilige Wässerchen haben sie nicht parat. Jedermann ist hier willkommen. Unabhängig von Glauben, Kaste sowie Hautfarbe. Der Erbauer hat auf jeden Fall aus dem originalen Brunnen der Weisheit getrunken.
Meine eigene Erkenntnis: Es gibt nur eine einzige Gottheit, und die heißt Leben. Allem, was Leben ist, sollte man Achtung und Wertschätzung entgegenbringen.

Nach vier Tagen verlasse ich die Stadt wieder. Es geht über eine Autobahn. Exakt ist es ein Feldweg der vierten Kategorie. An der Autobahn gibt es wieder ein richtiges Bett. Ein Raum, kleiner als jede Gefängniszelle, kostet mich stolze 14 Euro. Allerdings ist das Kellerloch ordentlich und sauber.
Am Morgen werde ich eines Besseren belehrt. Ich muss feststellen, dass ich mindestens zehn Bettwanzen mit meinem nahrhaften Blut versorgt habe. Wenigstens von Läusen bleibe ich verschont. Sie haben schlechte Karten bei meinem gepflegten Kurzhaarschnitt.
Wieder auf der Straße, fahren die Leute neben mir her. Stellen Fragen. Immer wieder die gleichen Fragen. Meine Standardantwort nach der 4326. Frage: „Das geht dich einen Scheiß an.“ Darauf erhalte ich ein freundliches Lächeln. Im gleichen Atemzug die nächste Frage: „Where are you going?“ Die ist neu. Meine Antwort auch. „Ich fahre zu meinem Privatjet. Parkt gleich dort vorne an der Ecke.“ Staunen, Lächeln. Mit dem Gefühl, eine befriedigende Antwort erhalten zu haben, fahren sie weiter.
Auch wird mein Essen geprüft. Wenn ich gerade in ein Chapati beiße, steckt sofort ein Finger in meinem Dahl. Was sie genau prüfen – keine Ahnung. Ist es noch heiß? Die gleichen Zutaten wie bei uns? Oder kontrollieren sie, ob der Koch seine Arbeit ordentlich verrichtet hat? Jungs, macht das bei eurem Besuch in Deutschland, und ihr fahrt ohne Zähne wieder nach Hause. Nach einem Monat Indien steht fest: Tauglich für den Waffenschein bin ich nicht!

Der Gedanke an saubere Flüsse lässt mich ein Abflussrohr verfolgen. Meine schlimmsten Befürchtungen treten ein. Alles, wirklich alles, was durch ein Rohr passt, fällt einen halben Meter hinter dem Haus ungefiltert in den offenen Wasser¬graben. Dazu gesellt sich der restliche Müll, der sich auf der Straße anhäuft. Später frage ich provokativ beim Chai-Verkäufer, wo sich der Mülleimer befindet. Ungläubiges Kopfschütteln: Was ist das denn für eine Erfindung?
„Einfach fallen lassen, die Boys kehren das später weg.“
„Wohin?“
„Hinter das Haus.“
„Und von dort?“
„Da holt es dann der Monsun.“
Klar, wer denn sonst.
Mangels Verkehrsschildern oder generell fehlender Ortsangaben muss ich Passanten um Hilfe bitten. Am liebsten sind mir Polizisten. Die haben in der Regel schon einmal englische Fragewörter gehört. Wie der Nachbarort heißt beziehungsweise den Weg zum nächsten Ort wissen aber auch sie nicht. Schnell habe ich mir angewöhnt, gleich mehrere zu befragen. Teilweise mit erstaunlichen Ergebnissen. Auf meiner Karte sind Orte nicht weiter als zehn Kilometer entfernt eingezeichnet. Trotzdem wird bestritten, dass es sie überhaupt gibt.
Hinzu kommen sprachliche Hindernisse. Dass Englisch die Amtssprache in ihrem Land ist, davon wissen nur die Beamten, die dies festgelegt haben. Teilweise gewinne ich den Eindruck, dass sie sich nicht einmal untereinander verstehen. So ähnlich wie bei Kölnern und Sachsen.

Jede Stadtdurchfahrt hinterlässt auf mir, dem Rad und den Packtaschen eine wundervoll schmierige, klebrige schwarze Smogschicht. Zum Glück ist meine Lunge noch jungfräulich, was das Zigarettenrauchen betrifft. Um die fünf bis zehn Schachteln atme ich hier pro Tag mindestens ein. Während meiner Europatour sprach mein Freund Chris zu mir: „Erkälten wirst du dich unterwegs nicht. Du verbringst den ganzen Tag draußen an der frischen Luft.“ Hier in Indien bin ich draußen. Mit jedem Atemzug hole ich allerdings mehrere Jahre Kettenrauchen nach. Beim nächsten Lungenröntgen in der Heimat erzähle ich stolz, noch nie geraucht zu haben. Der Doktor wird beim Betrachten der Röntgenbilder vielsagend nicken und sich fragen: Wen will der denn verarschen? Unklar ist mir auch, ob und wie ich jemals wieder sauber werde. Vierundzwanzig Stunden in einem Hamam wären sicher ein Anfang.
Mein tägliches Vorabendprogramm in diversen Hotelzimmern besteht darin, alle Moskitos zu finden und zu töten. Recht wirksam sind die Räucherpads. Sie brennen fast drei Stunden. Wer bis dahin nicht das Weite gesucht hat, wird auf bewährte Weise mit Schuh, Buch oder Handtuch gekillt.
Die Vegetation hat sich schlagartig geändert. Unzählige Grüntöne. Bäume, Sträucher mit tellergroßen Blüten säumen die Straßenränder. Teilweise sitzen Affen an der Seite, zeigen mir ihre Zähne. Ich muss mich entscheiden, vor wem ich ausweiche, vor den rücksichtslosen Lkw-Fahrern oder den aggressiven Affen.
Erste Berge tun sich vor mir auf. Langsam krieche ich Seite an Seite mit den Lkws bergauf. Die Fahrer und ich lächeln uns freundlich an und winken. Auf Sonnencreme kann ich verzichten. Die zwei Stunden, die es die Sonne schafft, sich durch den Smog zu kämpfen, bin ich durch eine staubige, schmierige Smog-Öl-Diesel-Rußschicht geschützt.
Der Wind säuselt durch mein nicht vorhandenes Haar. Die Vegetation sorgt für Abwechslung und gute Laune. Wieder einmal muss ich, um mein Leben zu retten, in den Straßengraben. Insgeheim male ich mir aus, wie sich bei dem Drängler das gute Karma verringert. Bei seiner nächsten Reifenpanne werde ich die restlichen Reifen zerstechen und den Autoschlüssel irgendeiner Cobra in den Rachen werfen. Mein Karmastand strotzt nur so vor Guthaben.
Waschen fällt heute wieder aus. Lediglich Gesicht und Hände säubere ich mit meinem Trinkwasser. Das sogenannte Badezimmer kann nur im Schutzanzug betreten werden.

verfasst von Kerstin Hoheisel am 09.09.2019:BewertungssternchenBewertungssternchenBewertungssternchenBewertungssternchenBewertungssternchen
..cool zu lesen, man ist echt mit dabei...

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