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Kari Kloth
Running for Life
Abenteuer Lebens-Lauf

Taschenbuch September 2015
581 Seiten | ca. 14,0 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-96014-003-0
ISBN (E-Book): 978-3-96014-035-1



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„Ich habe lange auf dich gewartet …“

Eine faszinierende Lebensgeschichte, illustriert mit 88 eindrucksvollen Fotos:

Kairo … Nehmen Sie den Flughafenbus ins Zentrum. Kostenpunkt ein ägyptisches Pfund. Wo bleibt der Hinweis: Nachts nur für Männer, Pärchen oder lebensmüde weibliche Singles? „Taxi.“ Egal, wie sehr der Fahrer sie finanziell über den Tisch ziehen wird, die Hauptsache, raus hier aus der Freiwildzone. Jill springt fast auf die zerschlissenen Polster der Rückbank. Ihr Rucksack liegt griffbereit neben ihr. Kein Risiko!

Jill besitzt alles, was ein erfolgreiches Leben symbolisiert – einen quirligen Sohn, einen charismatischen Ehemann, ein exklusives Haus und einen interessanten Job. Eine heile Welt, die schlagartig zerbricht. Fazit: Sie erkrankt an Bulimie. Der Teufelskreis aus heimlichen Fress- und Kotzattacken beginnt, die Sucht bestimmt ihr Leben. Eine Nahtoderfahrung schenkt ihr eine Vision: das Heilversprechen eines Unbekannten. Sie will suchtfrei leben, bricht auf und folgt ihrer Vision.

Ihre atemlose Suche nach dem Unbekannten und nach Heilung beginnt morgens um zwei Uhr in Kairo. Per Lkw oder Kamel, per Dhau oder Bahn durch Orient und Okzident – der Leser meint, Jills Rucksack auf seinem eigenen Rücken zu spüren und ihre faszinierenden Abenteuer selbst zu erleben.

Sie findet ihre Visionsgestalt schließlich im Sudan. Drei Tage bevor sie ihm gegenübersteht, kündigt er ihr Kommen an. Er begrüßt sie mit den Worten: „Ich habe lange auf dich gewartet …“

Kari Kloth ist Jill und lässt den Leser – schonungslos ehrlich, fesselnd und bildreich erzählt – hautnah an sich heran.
SCHOCK

»Ciao Jill. See you! War echt ne Superfete.« Die Haustür fällt ins Schloss. Der letzte Gast ist gegangen. Nichts deutet auf die bevorstehende Katastrophe hin.
Es ist vier Uhr früh, der elfte März, der Morgen nach ihrem dreißigsten Geburtstag. Nils, ihr zweijähriger Sohn, liegt in seinem Kinderbett im ersten Stock und schläft.
War das ein Fest! Tolle Stimmung! Einfach genial.
»Sexy, wir beide, oder?« Sie lacht, flirtet mit ihrem Spiegelbild in der Glastür. Die neue Seidenbluse klebt schweißnass aber aufreizend an ihrem Körper. Übermütig schleudert sie die Pumps von ihren Füßen, tänzelt über den roten Ziegenhaarteppich zur Stereoanlage. »The first cut is the deepest ...«, von Rod Stewart. Ein irrer Sound! Jill dreht den Volume-Regler auf Maximum. Die Boxen heulen auf.
Sich rhythmisch in den Hüften wiegend, beginnt sie ihre Bluse zu öffnen. Wo bleibt Mario, der jüngste Komet am Himmel erfolgreicher Kakao Ex- und Importeure? Highlight jeder Gesellschaft. Sein Erfolgsrezept? Charisma. Charme, Witz und Geist in überzeugender Mischung, perfekt dosiert. Er kann Menschen begeistern, wenn er will.
Mario, ihr Mann.
Summend legt sie ein Holzscheit in den Kamin, beobachtet das lebhaft flackernde Feuer. Sie liebt das Haus, ein Symbol der Großzügigkeit und Weite. Jedes Detail ist geschmackvoll ausgewählt, jeder Handgriff sorgfältig geplant. Die Glasfront zum Garten mit gelben Fensterrahmen, die nordisch blauen Holzgiebel und helle Kiefernstämme in weißen unverputzten Zimmerdecken begeistern jeden. Das Schmuckstück jedoch ist die Wendeltreppe, die sich hinauf in die verglaste Galerie schwingt.
Das Haus hat Stil, überzeugt durch Extravaganz, zeugt von Individualität und Erfolg. Eine Kostbarkeit. Wie ihre Ehe.
Durstig leert sie ihr Glas, stellt es auf den Kaminsims, füllt nach, als Mario die Stufen der Wendeltreppe heruntereilt. Sie reduziert die Musik auf Zimmerlautstärke.
»Alles okay im Kinderzimmer?« Sie lacht, hebt fröhlich ihr Glas. »Prost mein Schatz. Auf uns!« Ihre rotgelockte Mähne ist eine Augenweide. Natur pur. Ihr Stolz. Als Kind ein Trauma. Hexenhaare. »Lust auf einen Tanz?« Kokett. Strahlend.
»Lass den Unsinn!« Aggressiver Protest. Kampfstimmung. Sie ist alarmiert.
»Was ist los? Alles okay mit Nils ...?« Angst. Namenlos, doch spürbar. Sie wirkt wie eine Kiefernklemme, verhindert jedes weitere Wort.
»Nils schläft. Aber ich ...« Gefahr! Marios Miene drückt sie aus, seine Stimme signalisiert eine drohende Katastrophe. Jill versteift sich. »Ich verlasse dich!«
Fassungslosigkeit. Ungläubigkeit. Sie sucht instinktiv Halt am Kaminsims, bemüht, das Gehörte zu begreifen.
»Du ... waaas?« Ein entsetzter Aufschrei? Nein, eher ein erstickter Laut. Zittriges Lachen. »Was soll das? Ist das ein Scherz?« Hoffnung! »Natürlich, es ist ein Scherz!«
»Nein, kein Scherz, eine Tatsache! Mein Entschluss steht fest. Ich gehe, noch heute Nacht!« Jedes Wort trifft, verletzt. Schlag-Worte. Jill hebt abwehrend ihre Hand, umklammert ihr Glas. Sie will sich wehren, das Unfassbare verhindern. Das Glas zerspringt. Scherben, nicht nur in ihrer Hand.
»lch will mit Uta und ihren Kindern leben.« Stille. Ewige Sekunden. Ein Blutstropfen löst sich aus der Schnittwunde ihres rechten Daumens, fällt unbemerkt auf den roten Ziegenhaarteppich, versinkt.
»Ha ha.« Lachhafte Hysterie. Kontrollverlust. Sie wankt. Ihr Lachen verhallt in einem verzweifelten Schluchzen. »Uta? Aus dem Kinderhaus? Sie hat ... du hast ...?« Schock. Alles ist wirr. Unfassbar.
»Jill. Es ist vorbei!« Drei Worte. Eine Guillotine aus elf Buchstaben! Gnadenlos spaltet sie Jills Lebensträume, lässt sie um Atem ringen. Sie würgt – vor Entsetzen und Schmerz.
»Aber ... aber ich liebe dich.« Liebe, der Rettungsanker ihrer zehnjährigen Beziehung. Er muss halten, muss Mario aufhalten.
»Keine Chance. Hör auf, Theater zu spielen! Du verwechselst Liebe mit Neid.« Er geht, ohne sich umzudrehen. Ohne Bedauern. Unversöhnlich und mitleidlos. Unwiderruflich?
Die Haustür schlägt zu. Stille. Einsamkeit. Reglos starrt sie ins Leere.
Ehe-Bruch. Ohne Vorwarnung? Nein, die Katastrophe hat sich angekündigt.

ZUM KOTZEN

Ihr (lrr)weg im Labyrinth ärztlicher Autorität beginnt. Ein Weg, gespickt mit Belehrungen, Ignoranz und Zeitnot. Eine Gratwanderung auf den Gipfeln medizinischer Perfektion und Arroganz. Eine Fallgrube für Mitgefühl und Hoffnungen. Ein Spießrutenlauf.
Sie wird mit Kathetern im Hals, Magen und Darm buchstäblich geschlaucht. Man entnimmt ihr Blut, Stuhl und Urinproben, sticht sie, quält sie. Geräte bestimmen Lebenswert und -qualität, löschen ihre Identität. Sie wird in Einzelteile zerlegt, ist der Magen, das EKG, das Blutbild. Man vergisst Jill, den Menschen, das bedeutsame Anhängsel des zu untersuchenden Organs. Man ignoriert ihre innere Not, macht sie zu einem medizinischen Fall. Kein Arzt erspart ihr den Gang zur Waage, keiner die Forderung:
»Nehmen Sie zu!« Jills fehlende seelische Kilogramm werden übersehen, fallen nicht ins Gewicht! Niemand hilft ihr bei der Suche nach neuen Wertigkeiten für ihr Leben, stattdessen fallen viele Worte, denn kein Arzt zeigt sich jemals sprachlos. Hätte sie all die Belehrungen gesammelt, sie wäre unter ihrer Last zusammengebrochen.
»Sie sind nicht krank, nur zu unbeherrscht. Ein Beruhigungsmittel hilft Ihnen sicher. Dann können Sie auch wieder normal essen!«
»Zunächst müssen Sie zu Kräften kommen, dann sieht die Welt auch nicht mehr so düster aus. Es gibt ein Sprichwort: ln einem gesunden Körper wohnt ein gesunder Geist. Also Kopf hoch und Mund auf!«
»lch rate Ihnen dringend, sich konsequent an einen Essplan zu halten. Lassen Sie sich einen Termin bei meiner Diätassistentin geben, sie wird Sie entsprechend beraten!«
»Essen Sie Rohkost. Das müssen Sie mit den Zähnen zermahlen, nicht nur schlucken. Nehmen Sie sich Zeit zum Essen. Setzen Sie sich hin. Zählen Sie, wie oft Sie an einem Bissen kauen. Für eine optimale Verwertung braucht es mehr als dreißig Mal. Versuchen Sie es! Mir hat es auch geholfen.«
Rat-Schläge! Gewichtig, unpersönlich, nichtssagend. Sie alle treffen Jill, hinterlassen ihre Spuren. Wie individuell die Aussagen auch ausfallen, jeder Arzt bemüht sich ihr Gewicht zu stützen. Doch wer stützt sie in ihrer Angst?
Sie hat den Schritt gewagt und sich verschiedenen Fachärzten anvertraut. Erfolglos. Sie muss erkennen, dass auch Ärzte nur bedingt fähig sind Hilfe zu leisten. Sie muss ebenso einsehen, dass sie selbst unfähig ist, sich ihnen zu öffnen und ehrlich zu sein.
Sie sitzt auf der Terrasse, schreibt in ihr Tagebuch:
Keine therapeutische Maßnahme vermag menschliche Fürsorge zu ersetzen, keine Medizin Freundschaft und Geselligkeit, keine Infusion Liebe. Jeder Arzt füllt mich mit Pillen oder Worten ab. Ihr Augenmerk gilt dem Ausschlag der Waage. Sie ist maßgebend, nicht das Maß meiner seelischen Not. Labor und Messwerte bestimmen meinen Wert, kennzeichnen Mangelhaftes.
»Was soll ich nur tun?« Sie pausiert, hebt ihren Kopf den Birkenblättern entgegen, streicht minutenlang sanft den schmalen Stamm entlang. Die Birke bleibt stumm.
»Ich will leben! Mit Freude, nicht als Schatten.« Jill weint. Ihre Finger zittern.

KAIRO

Zweiter Oktober. Anflug auf Kairo. Jill blickt auf ihre Armbanduhr. Zwei Uhr dreißig morgens. Ägyptische Zeit. Das Flugzeug vibriert, die Landeklappen öffnen sich. Hochspannung. Was erwartet sie?
Eingekeilt in einer hastenden Menschenmenge wird sie zielstrebig die Gangway hinuntergeschoben, dann zum Laufschritt über das Flugfeld genötigt.
Regentropfen prasseln. Rufe, Schreie, Winken. Jill hält schützend ihre Jacke über den Kopf, nicht nur gegen die Nässe, auch vor den Zugriffen wild gestikulierender Mitläufer. Das Flugfeld gleicht einer Kampfsportarena. Vier Linienmaschinen spucken fast zeitgleich Menschenströme verschiedenster Nationalitäten aus. Das Ellbogenprinzip dominiert im Wettkampf um einen Platz an der vordersten Front, dem Eingang zum Flughafengebäude. Jill hastet über das Rollfeld, rennt Sandalen, Hackenschuhen und Plastiktretern an nackten oder bestrumpften Füßen hinterher.
Pass- und Visakontrolle. Die Ägypter scheinen das Schneckentempo abonniert zu haben. Die Krönung bietet die Gepäckausgabe. Fließbandabfertigung? Ein futuristischer Traum. Hier regiert die Kreidezeit. Ihr Rucksack wird mit gelben Kreidestrichen und roten Kringeln markiert. Freizeichen für den Zoll.
Zwei Stunden später, um vier Uhr dreißig, tritt Jill im Schein gelber Lampenbögen aus dem Flughafengebäude. Mit Rucksack, Visum, Hoffnung und zweitausend Dollar – Irmgards Geschenk für ihr neues Leben.
Ob Kinder oder Erwachsene, Gepäckträger, Taxifahrer oder Hotelschlepper. Sie alle umzingeln sie, strapazieren ihr Trommelfell und ihre Nerven durch schrille Rufe, Gezeter und lautes Gelächter. Sie ist die einzige Frau ohne männliche Begleitung zu dieser nächtlichen Uhrzeit – in einem muslimischen Land. Unmöglich! Eine Provokation jeder ägyptischen Männlichkeit.
Eine Mutprobe um diese Zeit. Ihr Frust weicht der nüchternen Einschätzung ihrer Chancen. Was tun? Der Tipp des Reiseführers für Low Budget Traveller:
Nehmen Sie den Flughafenbus ins Zentrum. Kostenpunkt ein ägyptisches Pfund. Wo bleibt der Hinweis: Nachts nur für Männer, Pärchen oder lebensmüde weibliche Singles?
»Taxi.« Egal wie sehr der Fahrer sie finanziell über den Tisch ziehen wird, die Hauptsache, raus hier aus der Freiwildzone. Jill springt fast auf die zerschlissenen Polster der Rückbank. Ihr Rucksack liegt griffbereit neben ihr. Kein Risiko!
Der Wagen setzt sich in Bewegung.
Es ist Dienstag. Ein normaler Wochentag für andere Menschen, doch für sie der erste Tag ihres neuen Lebens im Orient.

IN DER WÜSTE

Die Mittagssonne brennt, treibt sie in den Schatten einer Felsspalte. Skorpion- und schlangenfrei, nach doppelter Überprüfung per Blick und Steinwurf. Jeder schattige Zentimeter in der Wüste ist tückisch. Ihr Plan: Zuerst ausruhen und Kräfte sammeln, dann …
Jill blinzelt, schreckt benommen hoch. Der Himmel zeigt sich schleierhaft verhangen. Die Vorboten eines Sandsturms? Sie zittert vor Furcht. Was tun? Keine Frage! Aufstehen und Gehen. Doch in welche Richtung?
»Die Sonne ...« Der einzige Lichtblick und Wegweiser. Ein Blick zum Himmel, ein verzweifelter Versuch der Orientierung. Vergebens. In Minutenschnelle verdichtet er sich, das Licht verblasst. Sandkörner wirbeln durch die Luft, Windböen fegen über das sandige Gestein. Fast blind stolpert sie voran. Ihre Chancen zerrinnen, ebenso ihre Kraft.
Der Sandsturm braust auf, jede Kontur der Landschaft verschwindet. Ihre Nasenlöcher verkrusten. Die Wimpern verkleben. Sandkörner knirschen zwischen ihren Zähnen.
Ziellos taumelt sie durch den Sturm, stürzt. Rappelt sich mühsam auf, stürzt erneut. Bleibt liegen. Sie ist müde, will nur einen kurzen Moment ausruhen …
Ein Rufen. Sie nimmt es nicht mehr wahr.

BEDUINEN FINDEN JILL

… fast bewusstlos und halb verdurstet.
»Allah hat mich in dieser Stunde gelenkt«, erzählt Ahmed, ein altersgebeugter Mann, jedem, der es hören will. Zum wiederholten Male berichtet er von dem Augenblick, als er Jill fand.
»Jamila, die störrische Kamelstute, hat gebockt, als ich ihr bei Sonnenuntergang das Fußseil für die Nacht überstreifen wollte. Fortgerannt ist sie, ließ mich stehen wie ein Trottel. Ein Kamel trickst mich aus, oh Allah, mich Ahmed, der jedes Sandkorn dieser Wüste kennt. Peinlich, wirklich peinlich.« Lachen. Beifall. Ahmed ist ein beliebter Geschichtenerzähler. Es bleibt der eigenen Fantasie überlassen, wie viele seiner Erzählungen wahr und wie viele ersonnen sind. »lch nahm also meine alten Beine in die Hand, die noch springen wie ein Zicklein und verfolgte dies höckerige Untier. Ich rief und lockte Jamila mit vielerlei wohlklingenden Namen, die duftend wie Wüstenrosen in meinem Geiste sprossen. Doch sie narrte mich, Allah ist mein Zeuge. Sie scheuchte mich hin und her, mich, der schon ihre Mutter und die Mutter ihrer Mutter kannte, bis ich schließlich über einen verirrten Sonnenstrahl stolperte.« Mit offenem Mund und ungläubigen Augen lassen sich Kinder und Alte von Ahmeds abenteuerlichen Schilderungen einfangen.
»lch fiel zu Füßen eines Geschöpfes mit der Haarfarbe goldroter Sonnenstrahlen und sah, wie die Engel sich anschickten, ihre Seele für die Heimkehr zu Allah zu schmücken.« Totenstille, außer dem Knistern der Holzscheite in der Feuerstelle. »Da, alhamdullilah, welch ein Wunder, legte ein Engel meine Hand auf das Herz dieser Erdbewohnerin.« Er hebt feierlich seine dürren Arme gen Himmel, rollt wirkungsvoll mit seinen Augäpfeln. Atemlos wird jede seiner Gesten verfolgt, jedem einzelnen seiner salbungsvollen Worte entgegengefiebert.
»Es schlug, ja Allah, zart und zittrig wie die Flügel eines Jungadlers, doch es schlug.« Allgemeines Aufatmen. »Niemand wird mir glauben, wehe mir, doch das Echo ihres Herzschlages sprang wie eine Sandviper in meine eigenen Adern, rief: Ahmed, ya Ahmed!« Seine Stimme schwillt an, lässt keinen Mann, keine Frau, kein Kind unberührt. »Auch Jamila hörte es. Lautlos schwebte sie auf ihren weichen breiten Fußsohlen heran, stellte sich an meine Seite, lauschte aufmerksam. Ihr Kopf war zur Seite geneigt, ihr rechtes Ohr gespitzt. Sie verstand ohne Worte, schoss schnell wie ein Vogel zu euren Zelten, um Hilfe zu holen. Allah verlieh ihr Flügel. Es kam auf jede Minute an.
Sie trieb mit lautem Schrei die Trägheit aus euren Gliedern, ihr, die ihr schon von abendlichen Traumgespinsten umwoben ward und führte euch hierher.« Er schnäuzt sich, indem er einen Nasenflügel mit dem Finger zuhält und durch den anderen schnaubt. »Nur ein Abtrünniger wagt zu behaupten, ein Kamel sei dumm. Allah möge ihm seine Ungläubigkeit vergeben. Haben nicht schon unsere Vorfahren das Kamel wegen seiner Weisheit gepriesen? Heißt es nicht, dass Allah 100 Namen hat, die Menschen aber nur 99 kennen? Warum, frage ich euch, hat Gott, in seiner großen Weisheit und Allwissenheit, einzig dem Kamel das Geheimnis Seines hundertsten Namens preisgegeben?
Denkt darüber nach, oh ihr Unwissenden, wenn ihr das nächste Mal eure Kamele zur Wassertränke führt.«

SOMMERSPROSSEN

Die letzten Nachtschatten verhüllen noch das Morgengrauen, der Muezzinruf von der Moschee verkündet bereits den Tag. Es ist vier Uhr dreißig, laut Abdullah.
»Allah hu akbar.« Der Gebetsruf zerbirst als vielfaches Echo an den Felskämmen. Das Signal für den Sonnenball, sich gemächlich über Horizont und Bergkämme zu erheben. Die ersten Sonnenstrahlen entflammen rotgold Jills Haarschopf.
»Shuf, Shuuuf!« Ein schrilles Gekreische zerstört die morgendliche Beschaulichkeit. Eine bebende Hand zeigt auf Jill. Die Besitzerin der Hand ist eine Greisin mit halb verhülltem Gesicht und blau gefärbter Unterlippe, das Zeichen der Witwenschaft. Ihre nackten Zehen wühlen unruhig im Sand, Silberreifen schaukeln an ihren Fesseln. Menschen eilen herbei, von ihrem Gezeter angelockt, zeigen Verblüffung und Belustigung.
Flink bewegt sich die Greisin auf Jill zu, ihre Hand noch erhoben. Eine Drohgebärde? Eine Warnung? Abdullah greift ein, hält die zeternde Alte zurück. Jill gibt empört Kontra:
»Bist du verrückt? Madschnuna?« Angriffslustige Schlag-Worte. Aus der allgemeinen Verblüffung wird Gejohle. Abdullah gibt die Alte frei, schmunzelt vergnügt, als diese sich Jill auf Armlänge nähert. Ihre Finger spielen jetzt locker mit dem Wind, ihr Blick ist verschmitzt. Jill entspannt. Ein fataler Irrtum. Die Greisin reagiert blitzschnell. Ihre Hand schnellt vor, Finger zerren an Jills Haaren.
»Aua!« Reflexartig hebt Jill ihre Hände, zu langsam. Im Nu hat die listige Alte ein Messer in der Hand, Sekunden später eine rote Locke. Jill flüchtet auf die Ladefläche des Lastwagens. Zitternd vor Empörung ergreift sie ihr Kopftuch, präsentiert sich Minuten später sittsam haarlos. Ein derart listiger Lockenraub passiert ihr kein zweites Mal. Die Alte kichert. Pfeilschnell schießt ihr hennaroter Zeigefingernagel auf Jills Nasenspitze zu, stoppt, tippt sie sanft an. Es kitzelt. Jill lacht, hält neugierig still.
»Na Alte, was kommt jetzt?« Sie starrt in kohalschwarz umrandete Augen. Sie geben nichts preis. Der greise Zeigefinger tippelt forschend über Jills Nasenrücken, Wangen und Stirn, endet abrupt ... auf ihrer eigenen runzligen Nase. Beifall. Trillerlaute und Jubel.
»Was war das denn? Eine Pantomime? Abdullah, was will sie?«
»Deine Sommersprossen.«
»Meine waaas?« Instinktiv schützt sie ihr Gesicht mit den Handflächen, falls die schrullige Alte gedenkt, in ihrem Gesicht – wie zuvor an ihren Haaren – herumzuschnippeln.
»Sie will Sommersprossen haben wie du.« Seine Augenbrauen heben sich belustigt. Die Alte nickt nachdrücklich, punktet ihr runzliges Antlitz mit einem unsichtbaren Farbstift.
»Ein Witz, oder?«
»Nein.«
»Sag ihr, meine Sommersprossen sind waschfest, wachsen auf meiner Haut. Es sind keine braunen Farbtupfer. Außerdem gedeihen sie nur auf heller Haut.« Eine klare Aussage, bekräftigt mit einem Schuss Bedauern. Alles klar? Die Alte runzelt unwirsch die Stirn, öffnet den Mund, zetert.
»Sie sagt, du sollst ihr welche malen.« Jills Übermut verschwindet. Der dreiste Wunsch der Alten ist ein ernstzunehmender Befehl. Die Mienen der Umstehenden lassen keinen Zweifel daran. Eine Lösung muss her. Schnell. Jill überlegt fieberhaft, durchforstet gedanklich ihre Make-Up Utensilien, dann das Arzneitäschchen im Rucksack. Sie hat eine Idee.
»Sag ihr: Ich freue mich über die Ehre.« Abdullah übersetzt ihre Worte mit Charme. Die Alte setzt sich würdevoll auf eine hastig ausgebreitete Matte, lehnt ihren Rücken gegen den rechten Lkw-Vorderreifen, vollführt eine königlich herrische Handbewegung. Zwei jüngere Frauen spannen hastig, im gebührenden Abstand zu ihrer Majestät, eine leichte Tuchplane. Sie dient als Schutz vor unliebsamen Blicken. Die Audienz ist eröffnet, die Maskerade kann beginnen.
Ein Sprung auf die Ladefläche, ein Griff in ihre Medikamententasche, eine Kniebeuge vor der Greisin und die Schau beginnt. Theatralisch öffnet Jill die Pipettenflasche mit Jod, ergreift ein Teeglas, mischt ein paar Tropfen der Tinktur mit Gentiana Violett. Dann zieht sie die exotisch farbige Mischung mit einer Einmalspritze auf und steckt mit einer dramatischen Gebärde eine feine stumpfe Kunststoff-Kanüle auf das offene Ende des Spritzenkörpers. Jetzt beginnt der heikle Akt visagistischer Kunstfertigkeit. Die Menge hält den Atem an. Nicht nur sie.
Sorgsam und präzise betupft Jill punktuell den runzligen Nasen- und Wangenbereich der Alten, fixiert das Kunstwerk magisch mit einem Hauch Sprühpflaster. Eine buchstäbliche Glanz-Leistung. Fertig.
Kritisch beäugt sich die Greisin in einem Spiegel, der wie aus der Luft gezaubert plötzlich in ihrer Hand liegt. Händeklatschen. Glückwünsche. Die Audienz zeigt sich begeistert, zollt dem farbenfrohen Gesichtsschmuck ausgelassene Bewunderung. Eine junge Frau wagt es, das Gesicht der Greisin zu berühren.
»Jallah.« Die Abfuhr ist barsch, Jills Erleichterung stark. Die Alte zieht stolz von dannen, mit kicherndem Hofstaat im Schlepptau.

MAWLANA

»Was bedeutet Heilung für dich, Mawlana? Was Krankheit?« Jill fällt Patrick ins Wort vor Spannung. »Sind es nur zwei Begriffe für ein und denselben Zustand wie halb leer und halb voll?«
Mawlanas Lippen bewegen sich lautlos, als er die Perlen seiner Sibhar, der Gebetskette, zwischen den Fingern gleiten lässt. Innere Zwiesprache? Nur kurz, dann wird er bildhaft deutlich.
»Stellt euch vor, ein Mann nähert sich einer vielbefahrenen Hauptstraße. Er verweilt einen Moment am Straßenrand, dann überquert er die Straße in einem scheinbar günstigen Augenblick. Er hat die Freiheit, den Moment zu wählen, der ihm augenscheinlich als der beste erscheint, um heil die andere Straßenseite zu erreichen. Die Entscheidung zur Überquerung birgt ein lebensbedrohliches Risiko, sie ist abhängig von einem einzigen Augenblick seiner Wahrnehmung und Einschätzung.
Nehmen wir dasselbe Bild. Diesmal befindet sich neben dem Mann eine Ampel. Ihre Signale, ihre Weisungen, beschränken zwar die Freiheit seiner Entscheidungsmöglichkeiten, doch sie bieten ihm Schutz. Sie bieten die Chance einer sicheren Überquerung, befreien ihn von einem lebensbedrohlichen Risiko.«
»Die Ampelschaltung nimmt und schenkt also Freiheit?« Patrick stellt die Frage. Jill runzelt ihre Stirn. Worauf will Mawlana hinaus?
»Richtig. Ob es die Ampel an einer befahrenen Straße ist, die Brücke über einen reißenden Fluss oder die Krankheit auf dem Lebensweg. Sie alle setzen Signale und bieten Hilfestellungen. Sie schaffen Beschränkungen, die ihrerseits Freiheit schenken – wenn man sie achtet.« Pause. Die Worte wirken. Langsam, aber stetig wie Tropfen.
»Missachtet der Mann die Weisung der Ampel bewusst, geht bei Rot über die Straße und es geschieht ein Unfall, so ist seine Not selbst verschuldet. Seine Verletzung geht auf sein persönliches Konto, nicht auf Gottes Strafkonto, wie er meint. Sie ist eine Folge von Dummheit. Von Ignoranz, Eigensinn und Selbstüberschätzung. Sich in seiner Not bei Gott zu beklagen, Ihn anzuklagen oder den Unfall als Gottesstrafe zu sehen, ist eine weitere Dummheit. Statt zu klagen, sollte er Allah um Vergebung bitten.«
Jill erstarrt. Meint Mawlana sie persönlich? Wenn ja, wie lautet dann die Interpretation ihrer Bulimie? Göttliche Ampelsignale oder eigensinniger Unfall? Unwillig fährt sie sich durchs Haar. lhre Verwirrung ist perfekt.
Verunsicherung statt Klärung. Verwirrung statt Heilung. Sie ist erschöpft – von ihrer Bemühung zu verstehen. Von der abenteuerlichen Suche, ihren Suchtphasen, enttäuschten Hoffnungen und ihrer Sehnsucht nach Nils. Die Trennung von ihm ist ein tägliches Leid.
»Es gibt Heilung ...«

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