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Karl Maria Machel
Liber Sorores


Taschenbuch August 2019
371 Seiten | ca. 14,8 x 21,0 cm
ISBN: 978-3-96014-623-0


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Das Geheimnis der Erlösung liegt in der Erinnerung, eben darin, daß uralte Befreiungserfahrungen, ins Innere aufgenommen, und damit Gegenwart werden.
Die sicherste Zuflucht ist die Welt der eigenen Erinnerungen. Keiner kann sie einem nehmen, nur man selbst führt Regie über sie. Ich weiß eigentlich, was ich tue, ich träume. Und wenn ich träume, träume ich Vergangenes oder etwas, das möglich wäre. Es muß nicht gewesen sein, nur möglich gewesen. Das beinhaltet Träume, Möglichkeiten. Ich erinnere mich nur an einige wenige Träume, all die sandten Signale und die mußte man verstehen. Es mag nicht einfach sein, doch es geht, einfach gesagt, um sich selbst. Und da ist nichts einfach. Man muß den Traum akzeptieren und ausloten. Träume sind Herausforderungen. Man sollte sie annehmen, denn sie helfen uns weiter. Wenn man mit sich selbst im Reinen ist.
Doch es geht um Träumen, der wichtigsten Tätigkeit, besonders wenn man schreibt und ohne sie bekommt man Depressionen, sapere aude, wage zu Denken heißt auch, wage zu Träumen, denn das gehört zum Leben, das hat die Natur uns geschenkt, das Träumenkönnen, immer. Wenn wir es zulassen. Auch das ist nicht leicht, wenn man Rationalist ist. Ich bin es nicht mehr, man kann also auch gesunden. Und dann vielleicht schreiben, wenigstens für sich selbst, immer eine gute Therapie. Wenn ich weiß, was ich tue Wissen muß ich es allerdings, bewußt.
Als das Laub über den leeren Bahnsteig rauschte, kam es ihm vor wie Getuschel, nervös, hektisch und irgendwie geheimnisvoll. Als wäre es mit dem Entstehen von Legenden beschäftigt, dieses Laub oder auch mit Denkmälern, die etwas von früher mitteilen.
Ein leichtes Werk für den Wind. Er treibt seine Blätter durch die Zeit, Blätter, die den Bau der Jahrhunderte wieder und wieder berühren und das Geheimnis des Seins unter sich bedecken. Und so die Erinnerungen schließlich forttragen aus dem Stundenwerk der Tage. Die Spuren von Stürmen tilgend, die Spuren vergangener Jahre. Und ihre Einzelheiten, wie liegengebliebene Skizzen im Archiv verschütteter Ahnungen. ‘Das Land vor den Fenstern.’ dachte er, ‘Das, was wir Zeit nennen, wird uns wohl betrügen.’

Der Zug ruckte an und Słubice versank im Halbdunkel des Abends. Aus dem fahlvioletten Himmel kratzte müde ein roter Lichtfinger an den schmutziggrauen Scheiben des Speisewagens. Johannes stand mit dem Rücken zur Raummitte, schaute aus dem Fenster und lauschte auf das eintönige Rattern der Räder: davon davon davon...
Die Frau, die seine Frau war, Eirene, versank mit ihrem Blick im schmutzigen Scheibenspiegelbild seiner Augen. In ihrem Blick las er die Versprechen des Lebens, die Versprechen gemeinsamer Träume. Einige betrunkene Jugendliche lallten schwerzüngig wodkapolnischen Wortschleim in den Dunst des Wagens. Zäh klatschte er dem Mann ins Gehör und brachte ihn in die Realität zurück.
Peinlich berührt wandte sich seine Frau zum Gehen und er folgte ihr ins Coupé. Eine leere Wodkaflasche, ein ausgebrannter Freund der trunkfreudigen Jugend, suchte sie vergeblich zu hindern. Der Urweltschrei einer entgegenkommenden Lokomotive zerriß hetzend und doch irgendwie wehmütig die sich anbahnende Dunkelheit. Die Lichtblitze ihrer geschleppten grellen Abteilfenster drangen aggressiv in ihr Coupé, durchfluteten es mit wuchtigem Lärm. Plötzlich eintretende Stille bedämpfte wattig das erwachende Dunkel, das langsam Realität wurde. Fahrtwind uhte langatmig am Fenster und der nun entfernt wirkende Angstschrei des hetzenden Stahlwildes machte den Abend zur Nacht.
Er las in einem Buch, Ingeborg Bachmann, hin und wieder blickte er mit feuchten Augen aus dem Fenster hinaus in die ziehende Landschaft, dann streichelte er fast zärtlich das Gelesene, das Papier und flüsterte etwas, irgendeine Zustimmung oder Zärtlichkeit für die Autorin. ‘Das ist wahr, mein Mädchen...’ glaubte sie einmal zu verstehen. Eira sah ihm heimlich zu, sie mochte diese kleinen versteckten, von anderen unbemerkten Feinheiten sehr. Sie schmiegte sich an ihn und las mit.

Der Mann, den wir Johannes nennen wollen, starrte in die Dunkelheit hinaus. Eine Kladde auf den Knien blickte er in die Welt jenseits der Scheibe. Ein Text einer polnischen Künstlerin fiel ihm ein. Izabela Dziwis hieß die Dame, die er vor einigen Jahren kennengelernt hatte. Ihr Text Landschafts Begegnungen oder im Untertitel Rückkehr zu den Quellen stand ihm im Sinn; so oder so ähnlich hatte sie es formuliert. »Eine beträchtliche Zeit meines Lebens verbrachte ich mit Zugreisen. Der Eisenbahnzug ist für mich ein eigenartig spezifischer Schauplatz. Er zwingt zur Untätigkeit, und gleichzeitig bilden sich in Zugfenstern geschloßene wandernde Bilder. Oft bewunderte ich das sich draußen abspielende Schauspiel: Den goldblauen Tagesabbruch, die mächtige untergehende Sonne, smaragdgrüne, kristallklare Abende, wie Selene die Nacht aufzieht, eine paradiesische Wald- und Berglandschaft mit türkisblauen Seen und vielen Wasserfällen. Und niemals hatte ich das Gefühl, an etwas Kitschigem beteiligt zu sein, das alles passierte in Wirklichkeit. Die Natur zeigt solch eine verschwenderische Schönheit.
Es wird klar, daß die meisten Menschen kaum hören oder begreifen, was die Natur in Wind und Wolken, in Mond, Sonne, Erde und Himmel uns übermitteln will. Oftmals bleibt es bei einem flüchtigen, ästhetischen Erlebnis. Die Folge einer solch oberflächlichen Betrachtungweise ist Langweile. Denn die Schönheit zu sehen ist nur ein erster Schritt, wichtiger ist es, daß wir erkennen, was sich dahinter verbirgt.
Die Landschaft kann für uns ein Fenster sein, durch das wir sehr viel über diese Welt, das Leben und letztendlich über uns selbst erfahren können. Denn in der Art und Weise, wie wir die Dinge sehen, zeigt sich auch, wie wir in Wirklichkeit sind.
Jemand hat einmal gesagt: "Landschaft ist ein Abbild des Seelenzustands". Man kann diese Feststellung auch direkt auf den Kontakt mit der Natur beziehen, das Wahrnehmen ist doch meistens durch die Dominanz unseres Herzens eingefärbt, wie auch auf das Landschaftsbild, welches im Schöpfer, dem Maler, dem Schriftsteller einer Umwandlung unterliegt.
Oft habe ich die Mitreisenden beobachtet. Viele sitzen im falschen Zug, auf dem falschen Gleis ihres Lebens, haben die Station verschlafen, hören die Durchsagen nicht, haben den falschen Koffer oder noch schlimmer, zuviel Gepäck, auch in ihrer Seele dabei. Und jetzt habe ich das Gefühl, das viele von Ihnen, nachdem sie hinter den wunderbaren Naturerscheinungen den wahren Regisseur bemerkt haben, eine innere Berührung empfunden haben. Und auch, wenn sie sich im Angesicht der Natur kleiner gefühlt haben mußten, so ist der Sinn des Lebens ihnen deutlicher und größer geworden.
Die Natur ist für mich wie das "Wort".
Landschaften, Portraits und Stilleben, die ich beschreibe, male, inspirieren nicht zur neuen Wahrnehmung, sie sind die Aufzeichnung der Welt, die uns allen gemeinsam ist. Ich suche nicht nur nach etwas, das schon da ist. Ich verstehe, daß die Grenzen der Gegenwart in Inneren des Menschen wurzeln, in den Grenzen des "hier und jetzt".
Und die Welt, wie sie ist, jeder sieht sie.«
Einzelne Lichtinseln gaben die Tiefe der Nacht wieder. Vereinzelte Gehöfte, im Dunkel frierende Häuser zogen an den Zugfenstern vorbei, unbeachtet und verloren sich wieder in der Finsternis und machten die Nacht zur Nacht. Ein kleines grünes Schild mit weißer Schrift schwamm vorüber. Zbąszyns Zeiten als ehemalige deutschpolnische Grenzstation waren endgültig vorüber. Nichts deutete mehr auf die gemeinsame Geschichte hin. Damals, als die Grenzen noch anders verliefen; damals war vorübergeglitten, dahin. Der Faden des Zeitgeschehens, gestern noch agil, hatte seine Schleife um Zbąszyn geschlungen, sie verknotet, geschliffen und nichts denn Vergangenheit, Historie hinterlassen. Und Gräber, natürlich Gräber für die längst Vergessenen, für die Opfer der Geschichte, dem Sägemehl der Historie. Jahre gehen, Gräber bleiben; immer ist das so. Die Stadt hatte sich in ihre Straßen, Häuser und Plätze zurückgezogen, ihre Zeit war vorüber...
Gleichzeitigkeit sagt nichts aus, bemerkte schon Dürrenmatt. Das Ferne rückt erst mit der Zeit näher und das, was wir Realität nennen weitet sich nur allmählich. Zwar geschieht nichts ohne den Hintergrund, der wir Geschichte nennen, doch ist sie nicht in jedem Augenblick dem Menschen präsent. Die Last der Geschichte wäre sonst unerträglich, und doch ist sie der Träger des menschlichen Denkens, und gestaffelt in ihrem chronischen Verlauf, wie eine Landschaft.
Der Mensch treibt in diesem Zeitfluß dahin, und die Ufer dieses Flußes sind nur schemenhaft erkennbar; nicht einmal die Richtung des Stromes ist eindeutig auszumachen. Was er zurückläßt, ist Vergangenes, Verklungenes, ist Vergangenheit, das Bild eines Bildes, ein verschwommener Sinneseindruck, ein Erinnerungsfetzen.
Die Vergangenheit ist wirkungsvoller als wir glauben, effektiver als die Gegenwart, die einfach nur wahrgenommen wird. Allein die Vergangenheit, irgendwann einmal Gegenwart gewesen, dann verstrichen, abgetaucht, formte die Landschaft zu den Bildern, die nun am Zugfenster vorüberglitten.
Zbąszyn: Menschenzeit verrann. Nun klagte an den Gebüschen der Gräber die Dämmerung. Der Totenwind blies sein antwortloses Wo in eine Luft, die trauern machte. Und wir müssen sie trinken; diese flüchtige stille Ätherspur. Die Kerze am Rande der Historie blieb dunkel. Zbąszyn glitt vorüber wie die Geschichte, ein schemenhafter Bilderbogen, im Dunkel verborgen.

Marek Wołczinski sah in die strahlende Sonne des warmen Augusttages. Ihre Wärme durchflutete den Marktplatz des kleinen polnischen Grenzortes. In der Spätvormittagsstunde herrschte hier ein geschäftiges Treiben. Frauen jeden Alters boten in den nicht leichten Zeiten des Jahres 1939 selbstgezogene Feldfrüchte feil.
Marek mochte dieses Durcheinander, das Geschiebe und Gedränge vor den Ständen; die laut schnatternden Enten und Gänse, die blökenden Schafe und meckernden Ziegen, den frischen erdigen Geruch des Kohles und den gelbfrischen Glanz saftiger Äpfel. Nirgendwo, wenn nicht hier, dachte er sich, pulsierte das Leben. Insgeheim aber hoffte er die kleine Maryta, Tochter des Gemüsehändlers Goldsztyn, hier zu treffen. Ihre blauen Augen konnten mit dem Rotgold ihrer Haare jedem Sommertage Konkurrenz bieten.
Der alte Goldsztyn, ein gebeugtes Männlein mit krausem schwarzen Haar und einer gewaltigen Adlernase, ordnete das Gemüse auf seinem Handkarren. Mit einem langen weißen Gewande hätte man sich ihn als alttestamentarischen Mose vorstellen können; Marek mußte bei diesem Gedanken unwillkürlich lächeln.
Er trat an den Wagen heran, etwas unsicher, hinter dem auch Maryta hantierte. Sie wurde hinter ihrem gewinnenden Lächeln tiefrot, als sie den jungen Mann nach seinen Wünschen fragte.
„Ein Pfund Äpfel bitte, und... einen Nachmittag mit Ihnen.“, fügte der Angesprochene leise hinzu. Der alte Aaron Goldsztyn lächelte wissend und sah diskret in eine andere Richtung. Ihm wäre der junge Schmied als Schwiegersohn schon recht, war doch dieser anders als die übrige Dorfjugend mit ihrem leichtsinnigen Treiben; auch legte er keinen besonderen Wert auf den mosaischen Glauben bei Freunden und Angehörigen, hatte er doch seine Frau in einem kleinen Orte jenseits der Grenze kennen- und liebengelernt, in jener Zeit als Deutsche und Juden dort noch heiraten durften... er schüttelte den Gedanken unwillig ab. Heimlich wandte er seinen Blick den beiden zu, die sich ohne viel Worte zu verstehen schienen.
Er nickte Marek aufmunternd zu, „Wenn Pan Marek mecht heut nachmittag mal nach meinem Wagen schauen. Ich glaub, er kennt ein wenig Schmier brauchen.“ sagte er in seinen sonderbaren Sprachkonglomerat aus Deutsch und Polnisch.
Marek sagte mit stillem Herzklopfen zu, die Äpfel in seinen leicht zitternden Händen. Er war stolz auf sich, endlich hatte er es gewagt, und gewonnen. Er entfernte sich beschwingten Schrittes, den Nachmittag kaum erwarten könnend.
Johannes blickte von der Kladde auf und schaute wieder in die Tiefen der spiegelnden Scheiben, die ihn von der Nacht draußen trennte.

Die Welt, die wir mit jeder Sekunde, mit jedem Augenblick hinter uns lassen, gibt es nicht mehr, gibt es nie mehr. Sie ist auf ewig verloren; eben weil sich der Mensch im Laufe seines Lebens verändert, ist alles, selbst wenn es sich wiederholt, einzigartig.
Dennoch bleibt ein schales Gefühl beim Betrachten der Weltgeschichte. Zuviel wiederholt sich mit geändertem Vorzeichen, im anderen Kontext, um auf ähnliche Dummheiten hinauszulaufen. Die Fehler sind die gleichen; sie geschehen, und geschahen auch anderen Menschen zu anderen Zeiten. Mußten wohl geschehen, weil die Handlungsschemata der Menschen immer dieselben sind, niedere Beweggründe, selbst bei hehren Zielen. Wir haben nunmal kein genetisches Gedächtnis, müssen ergo Fehler unserer Vorfahren immer und immer wiederholen. Unsere Kinder und Kindeskinder. Die ewige Wiederkehr des ewig Gleichen, nur zur anderen Zeit, an einem anderen Ort. Davon abgesehen geschieht nicht viel, zu keiner Zeit, an keinem Ort.
Evolution? Sie geschieht heimlich, ist wohl nicht im Entwicklungsprozeß vorgesehen. Entwicklungsprozeß, das klingt so, als wolle man dem Ganzen einen Namen geben, dem Leben als Zufallsprodukt; Zufall und Notwendigkeit nannte es Monod, als müße man dem Ganzen eine Schöpfung andichten. Als müße man der Schöpfung Schöpfer und Sinn andichten. Wissen wir wirklich so wenig vom Leben, so wenig von uns selbst?
Doch der Reifeprozeß, bei den wenigen Individuen, wo er stattfindet, ist nunmal nicht genetisch verankerbar; sonst wären Kriegen keine Weltkriege gefolgt, hätte es keine Diktatoren gegeben, nicht einmal Helmut Kohl oder Gerhard Schröder hätten eine Chance gehabt. Jener Mantelschröder, der sich zum viermillionsten Arbeitslosen einen ViertausendMarksMantel gönnte und der Sonnenkönig Helmut I., der so wundervoll feuchten Auges blicken konnte, wie Alexanders Peter, wenn der verstand was er sang; Sloterdijk hatte schon recht und Utopia ist so fern wie eh und je; und die bessere Welt ist weder besser noch anders. Konservativismus in der Politik hat ja nichts mit dem Bewahren des Bewährten zu tun, sondern mit dem Schritt zurück in die bekannten Fehler der Geschichte, doch das steht auf einem anderen Blatt.

Der Zug stand. Poznań grüßte mit einem verwaschenen Lichtermeer, das sich mühsam durch den nächtlichen Smog biß. Grelle Bogenlampen tauchten den Bahnsteig in ein unwirkliches Licht.
Der Mann hatte das Fenster heruntergeschoben und starrte auf das Gewimmel des Perrons. Eine hübsche junge Frau, schmutzigen Wind in ihren blonden Locken, blickte hilflos den Zug entlang; fixierte mit lockend blauem Aug den Blick des Mannes und fragte: „Do Warszawy?“
Müde nickte Johannes und versuchte ein Lächeln:
„Tak, tak, do Warszawy...“ und setzte in Gedanken fort ‘da muß man immer wieder hin...’
Sie bedankte sich mit dem Anblick ihrer ebenmäßig weißen Zahnreihen und wandte sich um. Der Mann heftete seinen Blick auf die Gesäßtasche ihrer Jeans und versuchte den dort eingestickten Text zu entziffern. Seine attraktive Lektüre wurde von einer Dunstwolke aufgesogen.
„Mit wem sprichst Du?“ fragte seine Eirene und er antwortete mehr zu sich: „...hübsches Kind...“ Sie vertiefte sich wieder in die Seiten ihres Buches. Das Gewimmel auf dem Bahnsteig ebbte ab und auf einen Pfiff ruckte der Zug an. Ein letzter Blick des Mannes überließ Poznań dem Smog.

Seltsam, dachte Johannes, je älter man wird, desto mehr beginnt das Leben den Wänden ausgeräumter Zimmer zu ähneln. Wände, von denen man die Bilder der Vergangenheit abgenommen hat. Die Abwesenheit der Bilder ist fast aufdringlich und der Ort, wo sie hingen ist nun ein blasser Fleck auf der Landkarte der Erinnerung. Und dieser Fleck wiederum erinnert an die verblassende Erinnerung und spricht oft genug umso deutlicher von jenen verblaßten Bildern, die dort einmal hingen. Spricht auch von den verklungenen Affären, von den Lieben, die ein Ende nahmen, und von den Gesichtern, die damit verbunden waren, die fortgingen, aus dem Leben und der Gegenwart verschwanden. Gesichter, die unser Leben verließen, auf wie lange? Wir wissen es nicht, und wenn wir die Jahre dazurechnen, die es dauerte, bis sie in unser Leben traten, kurz oder lang, einmal im Leben oder öfter, das allein sind schon Ewigkeiten...
Wir sehen ein Gesicht nie als Ganzes, sondern schauen zuerst auf Details, Erkennen. Erst wenn man ein Gesicht Stück für Stück aus seinen betrachteten Einzelheiten zusammensetzt, lernt man es genauer kennen. Will man beim Lieben die Ausstrahlung eines Menschen richtig einfangen, muß man sich intensiv mit der Kommunikation auseinandersetzen. Schöne Menschen, Frauen wie Veronika erkennt man auf den ersten Blick, obwohl man sie zuvor noch nie leibhaftig geschaut hat. Es gibt unzählige Bilder von ihr in uns, und auf jedem entdecken wir eine andere Facette ihrer Persönlichkeit, wenn wir lieben. Es handelt sich um einen Aspekt der Wahrnehmung: Unser Bild von anderen setzt sich aus Einzelheiten, Augenblicken zusammen. Als ich dieses Gesicht sah, ist mir jedes einzelne Detail in Veronikas Antlitz richtig bewußt geworden, die Farbe ihrer Augen, die Form ihrer Nase, ihr sinnlicher Mund. Ich entdeckte, wie schön sie ist. Jedenfalls für meinen Begriff...
Und dann sieht man die Räume der Kindheit, der Jugend, die andere einmal beziehen werden und in denen sie Namen rufen, die uns unbekannt bleiben. Vielleicht sind wir nur lebende Marionetten und an diesen einen Augenblick der Gegenwart gebunden, den Augenblick, den wir gerade durchleben durchlieben durchleiden.
‘Ja, all die fernen Lieben,’ dachte er, seufzte in Gedanken und sah in die erleuchteten Fenster, die schweigend vorüberzogen. Die Liebschaften, die wir einmal durchglühten, jung, ungestüm und heftig. Die Mädchen aus verflognen Tagen, wie konnten sie uns nur ertragen, wir nahmen doch nur statt zu geben, er summte die Melodie des Liedes leise und schaute seinem Spielbild in der Scheibe zu. Auch sie waren verbrannt wie die mattgewordene Lampe an der Tür eines Hauses im Herbstnebel. Jenes Hauses im Herbste des Lebens, das keiner wirklich betreten möchte und in dem alles nur noch Erinnerung ist.
Und irgendwann ist man zu alt, um so jung zu sein, wie man sein möchte und zu jung, um so alt zu sein, wie man wirklich ist. Mit den Leidenschaften, den Passionen, der Literatur, der Kunst hat man den Abgrund der Vergänglichkeit vom Leben ferngehalten. Und dann ist man sein eigenes Werk geworden, sein Lebenswerk, das einen schließlich zugrunde richtet oder vollendet. Der dunkle Fall zwischen den verklungenen Umarmungen und der dräuenden Nacht ist unser Flügel der Leidenschaft. Zwei Körper und doch existierte nichts, bevor es gedacht wurde und zur Erinnerung verklang. Abgrund oder Vollendung obliegen uns selbst.
Du und ich, zwei Schatten im Licht des Anderen. Und unsere Träume spüren uns auf, treiben uns auf dem Tidenstrom des Schlafs herüber an ein anderes Ufer.

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