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Reingard Stein
Kurzenberg
Wassermühle von Lodmannshagen

Taschenbuch Dezember 2015
294 Seiten | ca. 12,8 x 19,2 cm
ISBN: 978-3-96014-049-8
ISBN (E-Book): 978-3-96014-072-6



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Eine Reise in die Vergangenheit der Familie ist wie eine Expedition zu sich selbst. Die Fahrkarte dafür stiftete Großvater Wilhelm, denn er verfasste eine Familienchronik, die eine Etappe lang auch mit der Historie der Wassermühle von Lodmannshagen identisch ist. 1891 kauften die Kurzenbergs das marode Mühlenanwesen und hielten es über vier Jahrzehnte im Familienbesitz. Der Verfasser beschrieb detailreich die Technik, das Müllergewerbe und die wirtschaftlichen Gegebenheiten jener Zeit. Die unvollendete Chronik ergänzte sein Sohn Otto, mein Vater. Ich wählte die Gesprächsform für dieses Buch, denn so kann der Chronist via Textpassagen aus dem Originaltext mit eingebunden werden.
Drei Generationen folgten somit den Lebenswegen der Vorfahren, Großvater Wilhelm, Vater Otto und ich, Tochter Reingard. Meine Mutter Christine lenkte den Blick schon mal kurz auf ihre sudetendeutsche Heimat. Ab 1949 wird sie in den Familienverband aufgenommen werden. Gemeinsam entdeckten wir, dass Familiengeschichte niemals losgelöst von den politischen Ereignissen betrachtet werden kann. Außerdem eröffneten uns alte Urkunden den Blick in das für uns fremdartige Zeitalter Anfang des 19. Jahrhunderts. Die Schicksale der Bewohner der Wassermühle wurden besonders durch den Ersten Weltkrieg und seine dramatischen Folgen beeinflusst.
Wie lebten die Vorfahren, was war ihnen wichtig? All diesen Fragen war hinterherzuspüren. Welche Charaktere hatten sie und welche Merkmale davon haben sich bis heute in der Familie erhalten? Wilhelm wollte erreichen, dass seine Nachkommen die Familienmitglieder und deren Geschicke kennenlernen können.
Am 7. Januar 1947 starb er, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Für uns Chronisten endet mit seinem Tod dieser Teil des Buches »Wassermühle von Lodmannshagen«. Es handelt sich indes nur um eine Unterbrechung der Zeitreise, denn die Familiengeschichte ist noch nicht zu Ende erzählt. Das ersehnte Kriegsende war für meine Eltern damals kein Grund zum Aufatmen. Deshalb die Fortsetzung mit dem Titel: »Heimat im Herzen«!

Inhalt

Die Chronik entwickelt sich 9
Lebensbänder der Kurzenbergs 18
Treffen an der Ostsee 24
Wilhelm vertellt
Uns’ Schaultied 29
Bi uns in’t 19. Johrhunnert 39
Ümtrecken to Wåter un to Land 45
De Wåtermähl 53
Dat Dörp 77
De Fomilienarbeit 86
Wåderwirtschaft 104
Inne Bredulje 110
De niege Wåtermähl 120
Pommernland ist abgebrannt! 125
Otto erinnert sich
Familiensinn 134
Die Technik der modernisierten Mühle 142
Das Trauma 14/18 153
Die Großfamilie 161
Mit dem Rücken zur Wand 179
Schluss … Aus! … Vorbei? 194
Die Folgen 203
Ludwigs Tod 219
Zeitenwende 232
Die Weltkriegskatastrophe 248
Die Welt in Trümmern 279
Das Räderwerk der Mühle 285

Wilhelm vertellt, Seite 29-38
Uns’ Schaultied
Zahlreiche und ereignisreiche Jahre gingen ins Land, bevor der Müller die Chronik fortsetzte. Im April 1941, als die Wassermühle längst nicht mehr im Familienbesitze weilte, nahm er die Berichterstattung wieder auf. Ich merke es bei mir selber, ich passe meine Sprache ganz offensichtlich seiner Zeit an. Der Epoche des 19. Jahrhunderts.
Großvater Wilhelm war der Sohn des Mühlenbaumeisters Johann Ludwig Joachim Christian Kurzenberg und seiner Frau Elise Gustave Christine Behm. Vom Anwesen des Schwiegervaters Behm, von Schaprode aus, ging Ludwig dem Gewerbe des Mühlenbaus auf der Insel Rügen nach. Seine Ehefrau Elise kümmerte sich um Kinder, Haus, Garten und um die dazugehörigen Tiere des Dorfhaushaltes. Mit der Lebens- und Familiengeschichte der Kurzenbergs wird Wilhelm gleich selber zu Wort kommen:
»Ich bin am 18. Januar 1879 zu Helle geboren. Kurz nach meiner Geburt sind die Eltern nach Schaprode übersiedelt. Am 2. September 1882 wurde mir ein Brüderchen (Ernst) geboren, das kaum eine Woche alt, schon starb. Am 21. November 1886 wurde mein Bruder Otto geboren.
Seit Ostern 1885 besuchte ich die Volksschule in ­Schaprode. Der Lehrer und Küster hieß Peters, war gerade erst dorthin versetzt worden und war ein vielgeplagter Mann. Unsere Klasse von den jüngsten ABC-Schützen bis zum letzten Jahrgang umfaßte 90 bis 100 Kinder. Wie ich dort abging, waren es sogar 102 Kinder. Außer von Schaprode waren die Kinder von Poggenhof, Retelitz und Seehof dort eingeschult. Viel lernen konnte man bei dem einen Lehrer nicht. Gesang und Geographie waren seine Lieblingsfächer.
Der Schaproder Kinder-Kirchenchor unter seiner Leitung war bekannt. Auch ich gehörte diesem an. Da in der Kirche keine Orgel war, mußte unser Kinderchor zu jedem sonntäglichen Hauptgottesdienst vollzählig zur Stelle sein, was auch jeder kleine Sänger oder Sängerin mit Liebe und Hingebung taten.
Kurz nach dem Weggang des Pastors Heller, es mag 1886 oder 1887 gewesen sein, kam auch ein neuer Geistlicher, Pastor Albert Weishaupt zur Schaproder Gemeinde. Wie schon gesagt, viel lernten wir in der Schule nicht, das hatte der neue Pastor bald herausgefunden. Ein zweiter Lehrer wurde während unserer Zeit nicht nach dort berufen, es fehlte auch ein Klassenraum, da das alte Küsterschulhaus nur einen Schulraum hatte. Bei den Eltern und Angehörigen der begabtesten Schüler sprach Pastor Weishaupt vor, mit dem Anerbieten, Privatunterricht zu erteilen. Viel Erfolg hatte er nicht damit, da die Mehrzahl nicht so bemittelt war. Es gelang ihm nur, zwei kleine Zirkel zusammenzubekommen. Der Stundenpreis betrug 1,50 Mark.
Montags und donnerstags von 11 bis 12 Uhr hatten die älteren Schüler, Heinrich Mundt und Peter Gau, Unterricht. Dienstags und freitags hatten die drei Jüngsten ihre Unterrichtsstunde. Gustav Weidemann, der Kaufmanns- und Gastwirtssohn, Paul Möller, der Sohn vom Tischlermeister Möller und ich, Wilhelm Kurzenberg, der Sohn des Mühlenbauers Johann Ludwig Kurzenberg. Unsere Stunde dehnte sich aber meistens auf 2 Stunden aus, sodaß wir oft nicht mehr Zeit zum Mittagessen hatten, um wieder zur Schule bei Peters zu gehen. Der Unterricht bei Peters dauerte täglich von 8 bis 11 (Uhr) und 1 bis 4 (Uhr) nachmittags. Mittwochs und Sonnabends nur vormittags.
Trotzdem wir drei Jüngeren es anfänglich sehr schwer hatten, den uns unbekannten Stoff zu bewältigen, so hatten wir doch bald Freude daran. Gelehrt wurden Deutsch und Rechnen und ich denke noch oft und gern an diese Unterrichtsstunden zurück. Da ich auch im Zeichnen begabt war, sollte ich späterhin einen technischen Beruf ergreifen und noch bessere Schulen besuchen.
1 ½ Jahre dauerte dieser Privatunterricht bei Pastor Weishaupt, einem Thüringer. Möller wurde konfirmiert, Weidemann kam nach Stralsund zur Schule, ich blieb allein übrig. Mein Vater erwog, ob er mich ebenfalls einer städtischen Schule zuführen sollte, dabei kam eine Übersiedlung nach Berlin, etwa Pension bei meinem Onkel, Mutters Bruder Otto Behm, der dort kinderlos verheiratet war, in Frage.«
Reingard: »Wilhelm hat einen guten Einblick in das Schulsystem gewährt. Für Schulkinder in der Stadt war das Bildungsangebot viel besser, als auf dem platten Land. Vor allem wird daraus die Schwäche der ein- oder zweiklassigen Dorfschulen deutlich. Wir tauchen jetzt aber noch um einiges tiefer hinein ins 19. Jahrhundert. Denn es liegt uns eine Aufzeichnung vor, welche im Jahr 1820 erstellt wurde. Im Protokoll geht es um die ›Besoldung‹ des Dorflehrers.«
In Preußen wurde im 18. Jahrhundert das ›Generallandschulreglement‹ verabschiedet. Knaben und Mädchen sollen im Schulunterricht in Fertigkeiten wie ›lesen und schreiben‹ und Religion ausgebildet werden. Im 19. Jahrhundert wurde die allgemeine Volksschulpflicht daraus. Für die Provinz Pommern galt die Schulpflicht ab 1825. Das musste mit sehr zähen Verhandlungen einhergegangen sein. Widerstände gegen den generellen Schulbesuch der Kinder gab es hauptsächlich seitens der Bauern. Die wollten oder konnten nicht auf die Mithilfe der gesamten Familie auf Feld und Hof verzichten. Mit den Bildungschancen ihrer Dörfler haderten aber auch die Großgrundbesitzer. Denn eine Landbevölkerung mit ›Durchblick‹ war nicht erwünscht, war nicht leicht zu führen, deshalb wurde die Schulpflicht auch von dieser Seite torpediert. Die Schulbildung hatte es also schwer, den nötigen Rückhalt in der Bevölkerung zu finden. Und dann müssen die Bauern auch noch den Schulmeister bezahlen! Das ist der Zündstoff, der zur Erstellung des ›Protocollum, gehalten zu Lodmannshagen am 6. Juli 1820‹ geführt hatte. Der Dorfschullehrer war von der Bauernschaft angestellt und zu entlohnen. Ob das Entgelt für den Lebensunterhalt ausreichte, darüber herrschte bei den Parteien Uneinigkeit.
Der Lehrer Johann Heinrich Bose aus Lodmannshagen hatte den Herrn Landrat Liedin um Vermittlung gebeten. In Anwesenheit des Dorfschulzen, der die Amtsgewalt des Bürgermeisters innehatte, der Bauern und des Schulmeisters wurde nun durch den Beamten das Jahressalär ausgehandelt. Zunächst wurde geprüft, was der vormalige Schulmeister erhalten hatte. Diese Leistungen erwiesen sich zum Lebensunterhalt als nicht ausreichend. Nun mussten die Landwirte dem Johann Heinrich Bose weitere Naturalien zugestehen. Neun Scheffel Roggen und drei Scheffel Gerste bildeten die fixe Besoldung. Darüber hinaus erhielt er Brennmaterial für den Winter, Kartoffeln und Weidemöglichkeiten für das von ihm gehaltene Vieh. All die Leistungen sind einzeln detailliert festgehalten worden. Des Weiteren war für den laufenden Unterricht von den Eltern der Schulkinder ein Beitrag zu entrichten. Das Schulgeld bemaß sich nach den zu vermittelnden Fertigkeiten:

· für Kinder, welche lesen — 1 Schilling die Woche
· für Kinder, die auch schreiben und rechnen — 2 Schillinge die Woche

Für die Feuerung im Winter von Michaelis bis Ostern mussten ein halber bzw. ein Schilling, je nach Ausbildungsstand, pro Woche zusätzlich entrichtet werden. Der Schulmeister Bose erklärte sich mit dem ausgehandelten Lohn einverstanden. Er merkte aber an, dass die Wohnung und die Schulstube ziemlich eng seien. Zusätzlichen Raum zu bauen wäre sehr wünschenswert. Die Bauern nahmen diesen Einwurf mit Unverständnis zur Kenntnis. Wenn es ums Geld geht, unterscheiden sich die damaligen Zeiten nicht von den unsrigen. Es ist immer das Gleiche, man versucht den Preis zu drücken, wo es nur geht.
Reingard: »Nun mal flugs zurück ins 20. Jahrhundert. Otto; Papa, du bist doch sowohl in Lodmannshagen als auch in Lubmin in die Dorfschule gegangen. Wie hast du deine Volksschulzeit empfunden?«
Otto: »In meinem Geburtsort Lodmannshagen hatten wir eine einklassige Dorfschule. Die war in zwei Gruppen aufgeteilt, die im selben Raum unterwiesen wurden. Die untere Stufe mit den kleineren Kindern der Jahrgänge 1 bis 4 unterrichtete der Lehrer Krüger, die älteren Schüler der Klasse 5 bis 8 der Schulleiter Dörnbrack. Es waren immer alle der ungefähr 40 Schulkinder anwesend und die Schulmeister unterwiesen abwechselnd ihre jeweilige Stufe. Das bedeutete, eine der beiden Gruppen musste sich mit irgendwelchen schriftlichen Ausarbeitungen beschäftigen. Sehr effektiv war dieser Unterricht nicht. Wie es im oberen Bereich aussah, kann ich aus eigener Anschauung nicht beurteilen, denn ich war einer der jüngeren Schüler. 1931 zog meine Familie in das Seebad Lubmin um und dort herrschten wesentlich bessere Zustände.
Dort gab es den Luxus zweier Klassenräume. Es handelte sich damit um eine zweiklassige Volksschule. Auch hier wurden etwa 40 Schüler unterrichtet. Der Lehrer für die Oberstufe war auch gleichzeitig der Schulleiter, hier in Lubmin war dies Herr Erich Leie. Er hat sich um die Schulbildung sehr große Verdienste erworben. Für die Rechenfertigkeit der Zöglinge der unteren Klasse hatte er zwei Leistungsstufen eingeführt und in der oberen waren es sogar drei. So bestand die Möglichkeit, die Schulkinder individuell nach ihren Fähigkeiten zu unterrichten. Die guten Schüler haben bei den gerade nicht unterrichteten Kindern die Aufsicht geführt. Später, als ich bereits ausgeschult war, kam noch eine dritte Lehrkraft hinzu. Eine Hauswirtschaftslehrerin, die die Mädchen im Kochen und in Nadelarbeiten anleitete. Daran wird schon deutlich, welches Regime wir damals hatten. Die Nazis legten viel Wert auf die Entfaltung der häuslichen Fähigkeiten.
Lehrer Erich Leie war ein außerordentlich beschlagener Mann, das muss ich unbedingt noch anmerken. Er besaß ein Wissen von sehr großer Bandbreite und konnte dies gut vermitteln. Ich habe mein Leben lang von der guten Ausbildung an dieser Schule profitiert. Ob das bei anderen Lehrkräften genauso gewesen wäre, wage ich zu bezweifeln. Schulgeld, wie hundert Jahre zuvor, war für die Volksschule bei uns nicht zu bezahlen. Nur für die Realschulen und die Gymnasien musste Geld berappt werden.
Die städtischen Schulen Anfang des 20. Jahrhunderts waren wesentlich besser aufgestellt als die Dorfschulen. Diese Erfahrung hatte mein Bruder gemacht, der seine ersten Schuljahre in Stralsund verbrachte. Dort lebte er bei den Großeltern. Als die Großmutter verstarb, kehrte er zu den Eltern und Geschwistern nach Lubmin zurück. Dass er den Anschluss an die Dorfschule verpasste, lag daran, er hat sich gelangweilt und deshalb nicht aufgepasst. Bei uns war der Unterrichtsstoff noch nicht so weit gediehen wie in Stralsund. ›Ick kann dat nich begriepen, Herr Lindow!‹ Und dann hat’s für meinen Bruder was an die Löffel gegeben. ›Ick war di wat begriepen lihren‹, so lautete die Antwort.«
»Mutti; Christine, deine Volksschule war auch eine kleine Dorfschule im Sudetenland, in Nordböhmen. Gab es große Unterschiede zu den pommerschen Schulen?«
Christine: »Das Schulgebäude, das sich in Kuttendorf, dem Nachbarort meines Dorfes befand, war eine zweiklassige Unterrichtsstätte, wie die in Lubmin. Die Schulstunden werden ähnlich organisiert gewesen sein. Zwei Unterschiede gab es dennoch. Erstens, im erzkatholischen Sudetenland kam der Pfarrer aus der Nachbargemeinde regelmäßig einmal wöchentlich zur christlichen Unterweisung in die Klasse. Und zweitens, als ich eingeschult wurde, war ich noch tschechische Bürgerin. Trotzdem, der Unterricht wurde in deutscher Sprache erteilt. Im Alter von etwa 10 bis 12 Jahren fand ein privater Schüleraustausch mit tschechischen Familien statt, das war bei uns schon immer üblich. Meine Eltern wurden auf diese Weise ausgebildet und für uns war es genauso vorgesehen. So wurde sichergestellt, dass die einen die tschechische und die anderen die deutsche Sprache erlernten. Bei mir und meinen Geschwistern kam der Anschluss des Sudetenlandes 1938 an das Deutsche Reich dazwischen. Von der politischen Seite her bestand keinerlei Veranlassung mehr, die tschechische Sprache zu lernen, denn wir waren ja automatisch deutsche Staatsbürger geworden. Durch den einseitig provozierten Anschluss an Deutschland gab es viel böses Blut bei den Tschechoslowaken.
Reingard: »Das ist ein weites Feld und wird später noch zur Sprache kommen. In diesem Teil der Chronik und auch im zweiten Buch mit dem Titel ›Heimat im Herzen«.
Christine: »Ansonsten erhielten wir in unserer Volksschule eine solide Grundausbildung. Mein Bruder Walter ging ja sogar aufs Gymnasium in Schreckenstein. Weil er einen sehr, sehr weiten Schulweg hatte, wurde er bei Verwandten einquartiert. Die auswärtige Unterbringung dürfte Kosten verursacht haben. Ob die Schule zusätzlich noch Geld kostete, kann ich nicht sagen. Mich kümmerten solche Dinge damals noch nicht.«
Reingard: »Hört man euch heute so reden, seid ihr sehr zufrieden mit eurer Schulbildung. Zumindest konntet ihr darauf aufbauen. Andererseits, in diesen Zeiten bekam man schnell was an die Ohren oder aufs Hinterteil, für Unaufmerksamkeit, bei Fehlern! Körperliche Züchtigung in der Schule, das kenne sogar ich noch aus meiner Schulzeit in Bayern, Ende der fünfziger Jahre. Dort gab es in der total überfüllten Klasse ganz schnell mal was mit dem Tafellineal auf die Finger. Gute alte Zeiten? Ich glaube, in dieser Beziehung will sie niemand wirklich zurück!
Eine letzte Frage zum Thema Schule habe ich doch noch: Es geht um die Sprache, in eurer jeweiligen Heimat wurde jedenfalls kein Hochdeutsch als Umgangssprache benutzt, wie sah sprachlich der Schulalltag aus?«
Christine: »Bei uns wurde Dialekt gesprochen. Einige Klassenkameraden hatten in der Schule zum ersten Mal in ihrem Leben eine Berührung mit dem Hochdeutschen, obwohl wir den Begriff Hochdeutsch nicht benutzten. Wir nannten es die ›Schriftsprache‹ und entsprechend schwer fiel es manchen Mitschülern, damit umzugehen. Das Thema Sprachausbildung in der Tschechoslowakei habe ich ja grade erläutert.«
Otto: »In meiner Jugend war ›dat Plattdüütsch‹ die Umgangssprache für Stadt und Land, zumindest für die einfachen Leute. Das änderte sich ganz rasant im Laufe der folgenden Jahrzehnte. Heute ist Platt die Sprache der alten Menschen, der Bauern. In der Schule war die Unterrichtssprache Hochdeutsch, ausschließlich. Aber natürlich lernten wir plattdeutsche Gedichte und Lieder. Schließlich lebten wir im niederdeutschen Sprachraum. Schriftsteller und Dichter wie beispielsweise Fritz Reuter verfassten ihre Werke op platt, auf Plattdeutsch.«
Reingard: »Ja, ich erinnere mich, mit Oma Kurzenberg und mit Onkel Willi hast du stets ›Platt snackt‹. Im Urlaub in Holland sprachst du die Leute einfach in Plattdeutsch an und sie verstanden dich sofort.
Das Thema ›Schule‹ bringt ganz schön Schwung in den Laden. Es kommen immer mehr Erinnerungen zum Vorschein, damit wir nicht ins Unendliche abdriften, muss ich dafür sorgen, dass dieser Bereich nun verlassen wird. Und zwar jetzt!«

Das Trauma 14/18, Seite 153-161

Im Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe gab es 2014 eine Ausstellung zum Thema ›Krieg und Propaganda‹. Es wurde aufgezeigt, wie bei allen der am Ersten Weltkrieg teilnehmenden Nationen die Manipulation eingesetzt wurde, um Geld und Soldaten einzuwerben. Dabei arbeitete man sowohl mit den Mitteln der Abschreckung als auch denen der Bedrohung. Es ist erschreckend anzusehen und anzuhören, wie die Bevölkerung demagogisch auf den Krieg als einzige der verbleibenden Möglichkeiten eingeschworen wurde. In den Jahrzehnten vor jenem Sommer 1914 hatte Europa ein hemmungsloses Wettrüsten erlebt. Die Lieblingswaffengattung des deutschen Kaisers war die Marine und so florierte der Flottenaufbau. Andere europäische Nationen wie Frankreich, England und Russland empfanden das Erstarken Deutschland schlichtweg als Bedrohung ihrer Interessen.
Bei so viel Säbelgerassel ist es nicht weiter verwunderlich, dass sich patriotisch empfindende Männer scharenweise freiwillig für den Kampf meldeten.
Einem Krieg, von dem sie annahmen, sie seien es ihrer Heimat schuldig, aktiv daran teilzunehmen!
Einem Krieg, von dem sie annahmen, er würde nicht sehr lange dauern.
Ein Irrtum, wie wir heute wissen!
»Papa, dein Vater Wilhelm und dein Onkel Otto haben sich natürlich auch freiwillig für den Kriegseinsatz gemeldet?«
Otto: »Ja, wobei du ja weißt, welche gesundheitlichen Einschränkungen die beiden hatten.«
Reingard: »Ist in der Familie bekannt, zu welchem Zeitpunkt dein Onkel Otto in den Krieg zog?«
Otto: »Nein, innerhalb der Verwandtschaft wurde nicht sehr viel von dieser Zeit gesprochen. Ich weiß nur, dass mein Vater für den Militärdienst nicht zugelassen wurde. Ich glaube, einerseits wegen der Unfallfolgen, deshalb war er ja ›dienstuntauglich‹ eingestuft, andererseits hatte er einen wichtigen Betrieb zur Lebensmittelherstellung. Ich könnte mir vorstellen, dass er an der ›Heimatfront‹ gebraucht wurde.«
Reingard: »Was meinst du, hatte dein Onkel Otto als junger Kerl vor seinem Kriegseinsatz einen Militärdienst absolviert? Schließlich litt er schubweise unter Gelenkrheumatismus.«
Otto: »Eigentlich müsste man mit einer derartigen Erkrankung wehruntauglich sein. Vielleicht hat man nach dem Kriegsausbruch solche Dinge nicht mehr so hoch bewertet. Wer weiß das schon!«
Reingard: »Am 19. Oktober 1917 fiel dein Onkel Otto beim Fort Malmaison in Frankreich; ›fürs Vaterland‹, wie auf seinem Gedenkstein steht.«
Otto: »Der Kriegstod des Sohnes, des Bruders war eine emotionale und wirtschaftliche Katastrophe für die Angehörigen. Ich erinnere noch, dass innerhalb der Familie öfter darüber sinniert wurde, ob er vielleicht noch die ›silbernen Tressen‹ erhalten habe.«
Reingard: »Was hat es mit den ›silbernen Tressen‹ auf sich?«
Otto: »Silberne oder goldene Besätze stehen für die Waffengattungen. Onkel Otto war bei der Infanterie, beim Kaiser Franz Garde Grenadier Regiment Nr. 2. Darüber hinaus waren die Tressen vielleicht eine Art der Auszeichnung für besonders tapferen Einsatz. Oder der Ausdruck der Beförderung zum Unteroffizier, diese Variante halte ich für realistischer. Aber, ich kann darüber nur spekulieren.«
Reingard: »Dein Onkel Otto besaß ja keine höhere Schulbildung. Dadurch bedingt hatte er vermutlich auch keinen zwangsläufigen Zugang zu höheren als zu den Mannschaftsdienstgraden. Vielleicht doch eher eine Auszeichnung, vielleicht postum?«
Otto: »Das war es möglicherweise, worüber Vater, Großeltern und Tante spekulierten.«
Reingard: »Ich habe im Internet nachgeforscht, dort sind Verlustlisten aus dem 1. Weltkrieg veröffentlicht. Und tatsächlich, dort fand ich den Eintrag ›gefallen‹ zum Unteroffizier Otto Kurzenberg aus Schaprode. Meine Recherche in der Datenbank des Volksbundes Deutscher Kriegsgräberfürsorge dagegen blieb ohne Resultat. Was dann ja bedeutet, er hat keine benannte Grabstätte.«
Feindseligkeiten entstehen niemals aus dem Nichts heraus, haben immer eine Vorgeschichte. Woher rührte also der unerbittliche Hass zwischen Deutschen und Franzosen? Insbesondere das 19. Jahrhundert steht für eine ganze Reihe von kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Nationen. Wobei der Ausdruck Nation auf die deutschen Kleinstaaten noch nicht zutraf. Aus verschiedenen Bündnissen heraus entwickelte sich erst 1871 ein deutsches Staatsgebilde unter preußischer Vorherrschaft. Frankreich hatte im Krieg 1870/71 Elsass und Lothringen an Deutschland verloren. Der Reichskanzler Otto vom Bismarck gründete das Deutsche Kaiserreich. Ausgerechnet im Spiegelsaal von Versailles wurde Kaiser Wilhelm I. proklamiert. Das war eine Schmach, die die Franzosen nur sehr schwer, nein eher gar nicht, verwinden konnten. Der Ruf nach Rache, nach Vergeltung, der Begriff der Erbfeindschaft stand aber schon vor dem verlorenen Krieg 1870/71 im Raum. Auch auf deutscher Seite war man den Franzosen nicht wohlgesonnen, obwohl man die französische Lebensart durchaus zu schätzen wusste. ›Der Franzos‹ war das Feindbild schlechthin, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Wilhelms Bruder Otto hatte seinen Kriegseinsatz in einer Region, die in einen sehr harten Stellungskrieg verwickelt war. Ein Kampfgebiet, nordwestlich von Reims, im Nordosten von Frankreich gelegen. Die Soldaten nutzten die natürlichen Geländeformationen des Höhenzuges ›Chemin des Dames‹ für ihre Gefechtsstände. Und hier lagen sich in den Schützengräben die deutschen und französischen Truppen gegenüber. Unter enormen Verlusten an Mensch und Material wurde erbittert um klitzekleinen Gebietsgewinn gefochten.
Ein Kriegsbericht aus dem deutschen Großen Hauptquartier schildert fast distanziert das Schlachtengeschehen im Oktober 1917 bei Malmaison. Insbesondere, wie der Feind ab Mitte September seine Kräfte bündelte, um dann im Oktober einen großangelegten Angriff mit Steilfeuergrananten zu starten. Fast nebensächlich wird vom ›vergasen‹ der Anmarschwege gesprochen und dass ab dem 17. Oktober 1917 ein infernalisches Trommelfeuer begann. Die deutsche Infanterie war sechs Tage und Nächte dem feindlichen Dauerbeschuss ausgesetzt. Aber auch die deutsche Artillerie antwortete den Angreifern mit Dauerfeuer. Auf diese Weise wurde die komplette Gegend zusammengeschossen, in Grund und Boden geschossen, pulverisiert! Von Heldentaten kleinerer Einheiten wird berichtet und dass das ganze Ausmaß des geleisteten deutschen Widerstandes nicht annähernd geschildert werden könne. Am Ende des Berichts wird erwähnt, dass sich die deutschen Truppen unter heftigster Gegenwehr durch den ›Wald von Pinon‹ über den Oise-Aisne-Kanal zurückzogen. Vom Wasserlauf aus konnten am 26. Oktober 1917 alle weiteren Versuche der Franzosen auf Geländegewinn erfolgreich abgewehrt werden.
Das muss die Hölle gewesen sein! In dieser Schlacht fiel Otto Gustav Karl Kurzenberg am 19. Oktober 1917. Ein Mensch, der mit 31 Jahren noch das ganze Leben vor sich hatte, und in den die Familie große Hoffnungen setzte. Dieser Verlust war sehr schwer zu ertragen. Ein Grab in Frankreich hat er nicht und deshalb ist es gut, dass ein Denkmal im Garten des Mühlenanwesens an ihn erinnert. Das ist der Trost für die Familie.
Unser Besuch in Lodmannshagen führte ganz selbstverständlich zu dem Gedenkstein. Ich muss sagen, auf den ersten Blick konnte ich diesen Stein überhaupt nicht entdecken. Meine Augen machten dann schließlich in der total grünen Umgebung den Erinnerungsstein aus. Unter den hohen Bäumen, in einer Senke stehend, über und über mit Moosen und Flechten bewachsen. Nachdem die Marmorplatte gereinigt war, können wir einigermaßen den Text entziffern:

Dem Andenken an Unteroffizier
Otto Gustav Karl
Kurzenberg
1. MGK
Kaiser Franz Garde Grenadier Regt. Nº 2
21. November 1886 zu Schaprode a. Rügen
† 19. Oktober 1917 fürs Vaterland
bei Fort Malmaison Frankreich
gewidmet von Eltern u. Geschwistern
Sei getreu bis an den Tod, so will ich
dir die Krone des Lebens geben.

›Sei getreu bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben‹. Dass genau dieses Zitat aus der Offenbarung des Johannes auf der Marmorplatte eingraviert wurde, ist kein Zufall. Spiegelt sich doch hierin ganz deutlich die christliche Einstellung der Familie wider. Zum Leben im Allgemeinen und zur Pflicht der Vaterlandsverteidigung, selbst wenn die tödlich endet. Unerschütterliche Treue, ein Grundpfeiler des Daseins, möglicherweise war dies auch der Tauf- oder Konfirmationsspruch des Otto Gustav Karl Kurzenberg.
Die Hierarchie des Staatswesens von ›Gottes Gnaden‹ wurde von vielen Bürgern nicht angezweifelt. Selbst wenn man persönlich anderer Meinung war. Die lange Zeit der Unfreiheit der bäuerlichen Bevölkerung könnte so ein kritikloses Obrigkeitsdenken noch befördert haben. Das bedeutete nicht, dass es keinerlei Aufbegehren gegen die adligen Privilegien gab. Ich denke da besonders an die ›Märzrevolution‹ 1848/49, die niedergeschlagen wurde. In jenen Zeiten wurde jedes Aufbegehren mit harten Sanktionen belegt. Nicht umsonst sind im 18. und 19. Jahrhundert viele Menschen in die ›neue Welt‹ nach Amerika ausgewandert. Der schlechten Lebensbedingungen und der Unfreiheit wegen. Die Monarchie, das war die gottgewollte Weltordnung, man denke da auch an die Rolle der Kirchen.
Wenn der Monarch den Untertan zu den Waffen rief, um der Verpflichtung zur Vaterlandsverteidigung nachzukommen, so ging man. Freiwillig und aus Überzeugung oder auch nur aus reinem Pflichtbewusstsein heraus, man gehorchte der Obrigkeit! Eine große Rolle spielte da auch der erwachende Patriotismus Anfang des 20. Jahrhunderts. Nationalbewusstsein im negativen Sinn, denn es galt den »Erzfeind Frankreich« zu besiegen, das hatte mit Nationalstolz nichts mehr zu tun. Insofern ist in diesem Zusammenhang die Definition von ›Vaterlandsverteidigung‹ durchaus fragwürdig. Einfach seine Knochen hinhalten, für Ziele, die andere für die höheren halten? Aus Staatsräson; wäre das heute undenkbar? Ich bin mir da nicht so sicher.
Jetzt muss ich ein wenig vorgreifen, denn auf einer Gedenktafel in der Dorfkirche von Schaprode auf Rügen wird an einen weiteren Kriegstoten der Familie erinnert. Auch sein Name ist Otto, Otto Wilke. Dieser Otto wird durch die Heirat Wilhelms mit Margarete geborene Wilke Teil des Familienverbands werden. Er fiel am 24. Juli 1918 bei Villers Bretonneux, einem Ort in Nordostfrankreich, zum Ende des Ersten Weltkrieges hart umkämpft. Von seinem Leben wissen wir nur sehr, sehr wenig. Er war der jüngere Bruder meiner Großmutter Margarete. Und er durfte die Mittelschule besuchen, deshalb hatte er wahrscheinlich den Rang eines Unteroffiziers inne. Sehr viel älter als Anfang zwanzig wird er nicht geworden sein. Bei meinen Recherchen bin ich auch bei ihm auf keine Grabstelle in Frankreich gestoßen. In der Verlustliste gibt es weit über zweihundert Einträge auf den Namen ›Otto Wilke‹. Wobei ich einen Vermerk gefunden habe, der auf einen Otto Wilke, Barhöft Stralsund lautet. Möglicherweise ist Großmutters Bruder auf dem Festland geboren worden, denn die Familie Wilke wohnte nachweislich auch in Stralsund. So aber ist die Tafel in der alten Schaproder Kirche der einzige gesicherte Hinweis, die einzige Erinnerung an ein junges Leben und an seinen gewaltsamen Tod an der Front.
So ungeschminkt wie im Heeresbericht hat die Öffentlichkeit bei keinem der internationalen Kriegsteilnehmer von dem Frontgeschehen erfahren. Die Verluste in den eigenen Reihen, ja, die mussten schon erklärt werden. Dafür wurden dann Begriffe wie Pflichterfüllung, Vaterlandsliebe oder der Heldentod gewählt. Die Bevölkerung stimmte man mit Bildern, Plakaten und Filmen ein. Radioempfänger waren zu jenen Zeiten vermutlich noch nicht ›massentauglich‹. Die Kriegsberichterstattung wird überwiegend in der Tagespresse stattgefunden haben. Bewegte Bilder, die gab es in den Wochenschauen der Kinos zu sehen. Wobei ich mal davon ausgehe, dass auf dem platten Land das neue Medium noch keine so große Rolle spielte. Trotzdem, für die Beeinflussung, für Stimmungsmache war gerade das Kino geeignet, Filmberichte, das war völlig neu für die Leute. Der Gegner konnte dämonisiert, und die eigenen Streitmächte als aufrechte Kämpfer für Freiheit und Vaterland dargestellt werden. Verunglimpfung des Feindes, Heroisierung der Nation und seiner Soldaten, das Prinzip galt für sämtliche der kriegsteilnehmenden Staaten. Sehr überzeugend ist dies in der bereits erwähnten Ausstellung gezeigt worden. Anlässlich des hundertsten Jahrestages zum Beginn der ersten Weltkriegskatastrophe, im Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg.


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