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Mark Daniel
Der weiße Song


Taschenbuch April 2021
328 Seiten | ca. 12,0 x 18,5 cm
ISBN: 978-3-96014-806-7
ISBN (E-Book): 978-3-96014-816-6



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Auf einer Musikkassette aus den 1980ern entdeckt Andreas einen mitreißenden Song einer verschollenen Rockband. Zu seiner Verblüffung findet sich im weltweiten Netz keine einzige Spur, und selbst die größten Musikfreaks müssen ungläubig kapitulieren. Die Jagd nach den Urhebern des „Weißen Songs“ zieht enorme Kreise. Und dann ist da noch eine verschüttete Erinnerung, die ans Licht drängt …

Mark Daniel verhandelt mit seinem Roman die Suche nach einem mysteriösem Stück Musik – und nach Orientierung von Ü-Fünfzigern in einer Zeit, in der sich Kommunikation, Geschlechterverständnis und Werte ändern.
Gott ist tot. Die Eilmeldung seiner News-App pushte
sich auf sein Handy. Nun gut, sie war abzusehen gewesen.
Schon seit Tagen, so verbreiteten die Nachrichten, war es
ihm schlecht gegangen. Jetzt also die Erlösung, und die
Jüngerinnen und Jünger waren untröstlich. Karel Gott
war gestorben. Zu etwa 95 Prozent ließ Mütze das kalt.
Er gehörte nicht zu denen, die alle Remixes von „Biene
Maja“ auf Platte und CD im Schrank hatten. Die fünf
Prozent Bestürzung speisten sich lediglich aus dem Gedanken: „Wieder eines weniger von den Gesichtern, die das
Kindsein bestimmt haben.“ Nun konnte Gott da oben bei
Dieter Thomas Heck auftreten.
Ein ungehaltenes Räuspern schreckte ihn auf.
„Herr Bachenbreder?“
Mütze blickte ertappt lächelnd von der Nachricht wieder ins Gesicht der Frau auf der anderen Seite des Schreibtischs aus einfallslosem Büroweiß.
„Geben Sie mir mal Fahrzeugschein und Führerschein,
bitte?“, schnarrte die städtische Angestellte.
Er fummelte die geforderte von seinen gefühlt 85 Plastikkarten aus dem Portemonnaie und schob sie rüber zu
der selbst für Rathaus-Zugehörige bemerkenswert schlecht
gelaunten Endfünfzigerin in blasslila Rüschenbluse mit
Nana-Mouskouri-Brille. Lebte die Mouskouri eigentlich
noch?, fragte er sich.
Ihr miesepetriges Double tippte auf der Tastatur herum.
Mütze las das Muster der billigen, weißen StrukturputzTapete hinter ihr. Sah aus wie eine riesige Fläche ausgetrockneter Rinnsale und kleiner, rissiger Inseln auf weitem,
völlig verdörrten Boden.
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„Fürs Parken sind Sie hier falsch“, schrapnellte die Frau.
„Äh, wie bitte?“
„Die Adressänderung auf dem Personalausweis ist kein
Problem, aber die Parkbescheinigung gibt‘s nicht im Bürgeramt, sondern im Technischen Rathaus.“
Hörte er da eine leichte Häme heraus?
„Wieso das denn, es geht doch ums Anwohnerparken?“,
fragte Mütze.
„Richtig“, sagt die Mouskouri für Arme, „aber das
wird in Ihrer Straße neu eingerichtet und heißt in diesem
Fall Bewohnerparken. Dafür müssen Sie ins Technische
Rathaus.“
„Sie wollen mich doch...“. Er riss sich zusammen. „Sie
machen Witze, oder?“
„Sehe ich so aus?“ Plakativ arktische Gesichtszüge.
„Wollen Sie mir sagen, ich hab mir hier also ne halbe
Stunde lang umsonst den Hintern plattgesessen?“
„So würde ich das nicht formulieren. Für Sie gilt jedenfalls Bewohnerparken. Dafür müssen Sie ins Technische
Rathaus.“
Wahrscheinlich hatte sie diese roboterhafte Belehrung
schon Hunderte Male abgelassen. Konnte aber doch nur
eine ganz miese Verarsche sein. Mütze guckte sich um. Wo
war die versteckte Kamera?
„Okay, fantastisch“, grummelte er. „Welche Öffnungszeiten hat das Technische Rathaus denn heute?“
Seufzend und mit ostentativem Widerwillen blätterte
die Gute ihre Behördenbroschüre auf und blickte mit einer
Andeutung von Lächeln an.
„Heute ist geschlossen.“ Ihre linke Augenbraue zuckte
wie zur Betonung.
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Mütze rollte mit den Pupillen. „Nee! Das stimmt nicht
wirklich?!“
„Heute ist Mittwoch, und da ist geschlossen. Im Technischen Rathaus.“
„Ich fass es nicht! Ich hab heute extra frei genommen!“
Das stimmte zwar nicht wirklich, aber ein bisschen
Drama und ein schlechtes Gefühl hatte sich die Amtsziege
verdient.
„Das tut mir leid“, kam es so herzzerreißend einfühlsam zurück wie das „Fahr‘n Se mal rechts ran!“ bei
Fahrzeugkontrollen.
Mütze stand auf. „Na, immerhin habe ich Ihre zauberhafte Bekanntschaft gemacht“, zischelte er, „haben Sie
nach Feierabend schon was vor?“
Die Olle verengte die Augen. „Ja, das hab ich – irgendwas ohne unverschämte Kunden wie Sie.“
Mütze holte Luft und dann zum vernichtenden Schlag
aus. „Blasen Sie alles ab, denn ich hab eine brandneue,
erschütternde Nachricht für Sie: Karel Gott ist tot!“
Wütend stapfte er davon, schaute sich aber noch einmal
um. Mouskouri für Arme sah ihm starr und mit geweiteten
Augen hinterher. Beim Aufreißen der Ausgangstür meinte
er, ein kurzes Schluchzen zu hören.
*
Aus den modrigen Katakomben der Erinnerung zwängte
sich eine Stimme hinauf. „It‘s a night of horrors“, krächzte
der Sänger. „Where the demons get out.“ Eine Gitarre raspelte dazu. Da kündete einer das pure Grauen an, Verderben, die Hölle, das Ende! „Close the door and be quiet.
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Cause they‘re crying for blood.“ Kam noch verdammt gut.
Und das, obwohl die Aufnahme leierte wie Sau. Die Folge
eines Bandsalats, den die Musikkassette nur mit vielen
Blessuren überlebt hatte. Mütze zog das vergilbte Einlegeblatt heraus, das jahrzehntelang in der zerkratzten, ehemals
durchsichtigen Hülle gewohnt hatte, und schmunzelte.
„Cutty Sark: Die Tonight“ war nur noch blass zu lesen, in
der Klaue eines Schülers, der für seine Handschrift stets
eine Vier im Zeugnis stehen hatte.
Das Mixtape aus Radiomitschnitten war über 35 Jahre
alt. Älter als der Mauerfall, älter als die erste Love Parade
und älter als der Skandal im Sperrbezirk. Andreas Bachenbreder, genannt Mütze, hatte das Ding mit einer Faszination in der Hand gehalten wie Ägyptologe Howard Carter
die Maske Tut-ench-amuns. Hatte sich nach dem Misserfolgserlebnis im Bürgeramt hinter seiner Barrikade aus
Umzugskartons verschanzt und ans Ausräumen gemacht.
Inzwischen war es früher Abend, doch seit zwei Stunden
schon hatte Mütze außer Weiteratmen jede Tätigkeit eingestellt. Seit der Inhalt der staubigen Pappkiste aufgetaucht
war. Vier Umzüge hatte sie überlebt, ohne jemals bei einem
einzigen ausgepackt worden zu sein.
„Was jahrelang ungeöffnet im Keller stand, gehört in den
Müll!“ hatte seine Mutter immer behauptet. Zumindest in
diesem Fall lag sie falsch, denn Mütze hatte einen vergessenen Schatz gehoben: seine Kassettensammlung. Und wenn
auch der CD-Player den Geist aufgegeben hatte, das Fach
für die Tapes funktionierte noch. Cutty Sark. Das war für
viele eine Whiskey-Sorte, deutlich weniger wussten um die
gleichnamige Band, um das deutsche Metal-Flaggschiff der
frühen 80er aus Bonn. Kannte irgendjemand auf diesem
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verdammten Planeten noch Cutty Sark? Oder die Rockröhre Lee Aaron? Ihr „Deceiver“ wütete als nächstes Stück.
Auch nicht übel. „A very sexy lady indeed“, lechzte der Sprecher des britischen Radiosenders BFBS zu den letzten Riffs.
Würde er das heute rausplautzen, hätte er eine Klage wegen
Sexismus am Hals.
Davon abgesehen nervte der Typ damals schon wegen
seines Reingelabers zum Song-Ende. Ob er zur Heavy
Metal Show oder zur Monday Rock Show gehörte, daran
konnte sich Mütze nicht erinnern. Jedenfalls hatten diese
gottverdammten Moderatoren schon immer ihren Kommentar oder die Chartplatzierung beim Ausblenden dazu
gegeben, und Generationen von Mitschneidenden hätten
sie dafür gern aufs Rad geflochten, bis sie sich drehten wie
eine LP!
Mütze erinnerte sich an vor Jahrzehnten entsorgte
Mixtapes, deren Trackliste er noch immer und für immer
gespeichert hatte, samt Zwischenmoderationen. Auf einem
raste Freddie Mercury mit seinen Queen zu „Don‘t Stop
Me Now“ über die Energie-Autobahn, dann schnurrte Mal
Sondock ein am Ende abgeschnittenes „Da geht die Post
ab, das waren ---“ hinein, bevor der Sänger von Faithful
Breath „A Million Hearts“ den Hörer beschwor, gefälligst
zu warten, denn noch war er derjenige, der die von allen
begehrte Lady an der Angel hatte. Faithful Breath, damals
neben Franz K. die einzige Band aus seiner Heimatstadt
Witten, die es zu Ruhm über die Komposthaufen der
Ruhrgebiets-Schrebergärten hinaus gebracht hatte. Nach
„A Million Hearts“ piekste übrigens umgehend das Synthie-Intro von Visage ins Ohr – „Fade To Grey“. Nun ja,
war halt ein Mixtape.
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An diese Kassette hier konnte sich Mütze allerdings
nicht erinnern. Deswegen zwang ihm der nächste Titel ein
Schmunzeln ab. Ziemlich krude Mischung, die er damals
auf die zweimal 30 Minuten gebannt hatte. Hazell Deans
„Searching“ bahnte sich seinen Weg. Zuckerwattenpop der
simpelsten Sorte. Peinlicher waren nur die Pappköppe von
Modern Talking. Der Einzug des Lipgloss ins Popgeschäft,
optisch wie musikalisch. Und dieses eunuchenhafte „Cheri
Cheri Lady“ klebte für Mütze bis in alle Ewigkeit an der
unglaublichen Brünetten, mit der er in der Schul-Disco
getanzt und sich schlagartig in sie verschossen hatte. Nach
allen Regeln seiner begrenzten Kunst hatte er gebalzt wie
ein Auerhahn. Eine Woche später hatte sie ihn mit dem
Arsch nicht mehr angeguckt. Halb so schlimm, in dieser
Zeit entliebte er sich schneller als Lucky Luke schießen
konnte. Auf einer Freitagabend-Party konnte er einem
Mädchen begegnen, für das er durch Hölle, Fegefeuer und
jede Mathestunde gehen würde. Kein anderes weibliches
Wesen würde ihn jemals wieder auch nur ansatzweise so
entflammen können wie dieses. Diese Erkenntnis hatte
eine Halbwertzeit bis zum nächsten Samstag, an dem ein
Typ aus der Jahrgangsstufe seine Cousine aus Dingenskirchen mit auf die nächste Fete nahm. Die Ewigkeit konnte
ein erstaunlich frühes Verfallsdatum haben, wenn Geilheit
mit Liebe verwechselt wurde. War halt so zwischen 15 und
18. Auch bei Mütze, der jedoch damals kein Abschlepptyp
war, sondern eher der Gefühlige, der Irritierbare, der noch
nicht so richtig wusste, wohin ihn seine emotional-hormonellen Achterbahnfahrten führten.
Als nächstes pumpte „Happy Children“ von P. Lion
die Synthies durch den Lautsprecher, im Finale zerlabert
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von WDR-Discjockey Mal Sondock, amerikanischer DJHeld von damals. Die 80er Jahre – ein ungemein prägendes Jahrzehnt besonders für alle, deren Hauptbeschäftigung in dem Zeitraum die Bekämpfung von Akne und
Eltern-Dominanz war. Grauenvolle Mode, Knight Rider
und Diese Drombuschs, Tschernobyl, Pet Shop Boys, ein
Schauspieler als US-Präsident und kein einziges Deo, das
den eigenen Iltis-Geruch komplett überdeckte. Die 80er
– die Zeit, in der Fußballprofis noch deutlich älter waren
als er. Überhaupt schien ihm die Liga als der deutlichste
Indikator dafür, wie schnell sich die jeweilige Gegenwart
erledigte: Als er das Alter der meisten Spieler erreichte, entschädigte ihn, dass die Trainer noch massig viele Jahre vor
ihm lagen. In der nächsten Stufe sorgte Manni Burgsmüller für Trost, weil er noch mit 40 für Geld vor das Leder
trat. Undsoweiter, Inzwischen waren Mützes Jahrgänge
Sportdirektoren oder Vereinspräsidenten.
Ein Song riss ihn aus seinem Gedankenstrom. Beim nächsten Stück preschten ein treibendes Schlagzeug, Keyboards
und eine sirrende Gitarre gleichzeitig los, dann lud eine
Stimme durch. Die miese, gurgelnde Qualität des Tapes
wickelte dem Frontmann zu Beginn ein paar mal ein Handtuch um den Mund, ehe er sich davon befreite. Trotzdem
verstand Mütze kaum eine Zeile, bis der Refrain warnte:
„Hold on, hold on!“ Ganz schwach hob ein Wiedererkennen Mützes Augenbrauen. Ging flott ab, der Song. Coole
Melodie und vernünftig Druck auf dem Kessel, wenn auch
kein besonders auffälliger Abzweig vom Mainstream der
frühen 80er. Trotzdem ein spannendes Wiederhören. Vielleicht ja doch kein so schlechter Tag heute, dachte er.
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„I tried once, I tried twice, no goodbye, no sacrifice“.
Das gefiel ihm. Aber war da nicht noch etwas? Irgendwo
tief unten in seinem Gedächtniskeller, in der Hirnkammer frühjugendlicher Erinnerungen, regte sich bei diesem
Stück etwas. Ein kaum merklicher Schimmer, der mit kurzen, hellen Streifen auf einen Halbschlaf fiel, aber sofort
wieder verschwand. Und keine Ahnung, ob die Assoziation
mit etwas Unbekanntem eine gute oder eine schlechte war.
Er spürte bloß dieses Gefühl, das einem durch den Bauch
schießt, wenn man merkt, dass man sich von zu Hause
ausgesperrt hat. Seltsam.
Sein Blick glitt zum Einleger: „Hold On“ stand da in
jugendlich verblasster Schrift, deren endgültige Kalligraphie sich noch nicht gefunden hatte, und an der für den
Interpreten-Namen reservierten Stelle bog sich ein Fragezeichen. Mütze hörte weiter. Der Sänger krächzte irgendwas
von „fear“ und „so clear“. Alarmsirene bei der Geschmackspolizei! So etwas Abgenudeltes kannst du heute nicht mehr
bringen, dachte Mütze, aber damals war das sicher erst die
30. Band, die diesen Reim gewagt hatte. Nach rund drei
Minuten verlor sich die Musik erneut in einem Strudel aus
Rauschen. Dann ein kurzes Fiepen – Stille. Fünf Sekunden
später meldete sich plötzlich „Burn The Sun“ von Virgin
Steele, dann die Türklingel. Mütze wunderte sich – schon
der Paketdienst mit der Stehlampe, die er im Netz bestellt
hatte? Seine Knochen schienen auf den Boden getackert.
Ächzend hievte er sich aus dem Schneidersitz, überstieg die
Kartons in der vollendeten Eleganz eines 95-Jährigen nach
Oberschenkelhalsbruch und drückte den Türöffner.

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