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Thomas Warzog
Das Wesen der Mathematik
Quintessenzen ohne wissenschaftlichen Anspruch

Hardcover Januar 2023
133 Seiten | ca. 17,0 x 24,0 cm
ISBN: 978-3-96014-957-6


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Mit diesem Essay gibt der Autor seine Liebe zur Mathematik zum Ausdruck, indem er beschreibt, welche Quintessenzen er in der Mathematik gefunden hat. Er beginnt seine Darstellung mit philosophischen Betrachtungen zum Wesen der Mathematik.

Anschließend gibt er einen Überblick über die wesentlichen Fachbereiche der Mathematik. Dabei lässt er auch seine persönlichen Erlebnisse, Beobachtungen und Erfahrungen einfließen. Er rundet diese mit dem Kapitel "Bedeutung der Mathematik" ab, indem er versucht, auch eine persönliche Antwort auf diese Frage zu geben.

Jeder Mensch muss für sich selbst entscheiden, in welchem Umfang die Mathematik für sein Leben bedeutsam ist und welche Erfahrungen er im Umgang mit der Mathematik gemacht hat. Jedes Kind erschließt sich den Zahlraum der natürlichen Zahlen. Daher ist diese Frage auch eine Frage des menschlichen Seins.
Vorwort

Mit diesem Essay möchte ich meine Liebe zur Mathematik zum Ausdruck bringen und beschreiben, welche Quintessenzen ich in den jeweiligen Disziplinen der Mathematik gefunden habe. Diese richten sich primär an Leser ohne Hochschulkenntnisse der Mathematik, weil der Formalismus der Mathematik von mir so gering wie möglich gehalten wurde und meines Erachtens von jedem Abiturienten und jeder Abiturientin mit mathematischem Interesse verstanden werden sollte. Da diese Auswahl subjektiven Charakter hat, habe ich mitunter meine persönlichen Erlebnisse, Beobachtungen und Gefühle einfließen lassen. Mein Wunsch ist es, meine Freude an der Mathematik mitzuteilen und meine Leser zu ermuntern, sich mit mir an der Mathematik zu begeistern. Der Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843) hat in seiner Dichtung „Diotima“ formuliert:

„O, ein Gott ist der Mensch, wenn er träumt, ein Bettler, wenn er nachdenkt, und wenn die Begeisterung hin ist, steht er da, wie ein missratener Sohn, den der Vater aus dem Hause stieß.“

Die Mathematik gilt bei vielen Menschen als nüchterne Wissenschaft, von der sie sich während der Schuljahre oft gequält fühlen. Ihren ganzen wunderbaren Zauber entfaltet die Mathematik jedoch, wenn sie höhere Gefilde der Betrachtung erreicht. Analysis, Topologie, Geometrie und Algebra gehen in der höheren Mathematik fließend ineinander über. Eine mathematische Funktion kann beispielsweise als ein Punkt in einem unendlich dimensionalen Raum aufgefasst werden. Zu zwei Funktionen können Abstände gemessen werden, wodurch sich eine Topologie und damit auch eine Geometrie in einem unendlich dimensionalen euklidischen Raum ergibt.

Daher habe ich beschlossen, dem Vorwort ein paar metaphysische Betrachtungen zur Mathematik unmittelbar anzuschließen. Zunächst möchte ich einen merkwürdigen Traum vorstellen, den ich während meines Studiums hatte und in dem ich von meiner Wanderung zum Tempel der Mathematik träumte, der sich auf einen hohen Berg befand. In dem dann folgenden Abschnitt habe ich ein paar Betrachtungen zum Wesen der Mathematik angeschlossen. Danach runde ich das Vorwort mit der Behandlung der Mystik und möglichen Bezügen der Mathematik zur platonischen Ideenlehre ab.

Im ersten Kapitel widme ich mich der Mengenlehre. Jedes Kind weiß, was eine Menge ist. Jedoch hat spätestens die Russelsche Antinomie aus dem Jahr 1903 gezeigt, dass der Begriff der Menge zu Widersprüchen führt, wenn man den Begriff der Menge nicht axiomatisch eingrenzt. Aus meiner Sicht ist der Begriff der Menge für die Mathematik fundamental. Er wird von vielen Mathematikern unbekümmert angewandt, ohne überhaupt Kenntnisse von der axiomatischen Mengenlehre zu haben. Das ist zumindest denkwürdig.

Darauf aufsetzend behandle ich einige einfache algebraische Themen. Bei einer mathematischen Gruppe handelt es sich beispielsweise um eine Menge, auf der eine Verknüpfung definiert ist und die ein neutrales Element und ein inverses Element hat. Jedes Kind kennt die Gruppe der ganzen Zahlen mit der Addition und der Subtraktion, welche die Gruppenaxiome erfüllen. In mei- nem Hauptstudium war ich verblüfft, dass die aus der Schule bekannte eindeutige Primfaktorzerlegung einer ganzen Zahl sich auf algebraische Eigenschaften der ganzen Zahlen zurückführen lässt.

Gruppen eignen sich hervorragend für die Behandlung von Symmetrien. Das Zusammenspiel von Symmetrien, Lösung von algebraischen Gleichungen mittels Körpererweiterungen wird anhand der Galoistheorie skizziert. In der algebraischen Topologie zeige ich beispielhaft auf, wie Homologiegruppen aus den Kettenkomplexen von topologischen Mannigfaltigkeiten entstehen. Diese bilden algebraische Invarianten von Topologien und verselbständigen sich in der homologischen Algebra von Kettenkomplexen.

Der Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1777-1855) bezeichnete die Mathematik als Königin der Wissenschaften und hob die Zahlentheorie als Königin der Mathematik hervor. Daher möchte ich ein paar Beispiele aus meinem Studium zur elementaren, der algebraischen und der analytischen Zahlentheorie angeben, welche mich sehr beeindruckt haben.

In der Analysis möchte ich das Wesen der Infinitesimalrechnung zunächst an der Konstruktion der reellen Zahlen veranschaulichen, gehe dann in der komplexen Analysis auf einfache Anwendungen des Residuensatzes zur Lösung von zahlentheoretischen Aufgaben ein und zeige an einem anschaulichen Beispiel aus der Quantenmechanik in der Funktionalanalysis, wie unendlich dimensionale Räume erschlossen werden. Zum Schluss zeige ich Anwendungen von Differentialgleichungen aus der Mechanik und Quantenmechanik auf. Dabei versuche ich auch persönliche Erlebnisse aus meinem Studium mit einzubeziehen.

Das Kapitel Geometrie beginne ich mit dem antiken Beweis des Satzes von Pythagoras aus der Euklidischen Geometrie. Die analytische Geometrie veranschauliche ich am Beispiel des schiefen Wurfs. Danach beschreibe ich Grundzüge der projektiven Geometrie und ihre Beziehung zur analytischen Geometrie. In der Differentialgeometrie stelle ich die erste und zweite Fun- damentalform vor und versuche daraus ein paar Hinweise zum Beweis des Theorema egregiums von Carl Friedrich Gauß (1777-1855) zu geben, in dem Gauß feststellte, dass sich die äußere Krümmung einer Fläche aus inneren Eigenschaften der Fläche ergibt. Der Mathematiker Bernhard Riemann (1826-1866) zeigte folgerichtig in seinem Habilitationsvortrag 1854 die Möglichkeiten zu einer Differentialgeometrie in beliebig vielen Dimensionen mit lokal definierter Metrik auf. Riemannsche Geometrien zeichnen sich dadurch aus, dass topologische Mannigfaltigkeiten nicht mehr in flache euklidische Räume eingebettet werden müssen. Lie Gruppen sind differenzierbare Mannigfaltigkeiten, auf welchen eine kontinuierliche Gruppenstruktur definiert werden kann. Aus der Kenntnis der Lie Algebra des Tangentialraums lässt sich bereits weitgehend die gesamte globale Mannigfaltigkeit erzeugen, wenn sie einfach zusammenhängend ist. Dies wird am Beispiel der Drehgruppe veranschaulicht. Das Kapitel Geometrie runde ich mit der algebraischen Geometrie ab, welche ihren Ausgangspunkt im Hilbertschen Nullstellensatz hat und schließlich in einem ausgiebigen reziproken Verhältnis von geometrischen Objekten und algebraischen Strukturen in mathematischen Ringen führt.

Zum Schluss möchte ich auf die Frage nach der Bedeutsamkeit der Mathematik eingehen. Jeder Mensch muss für sich selbst entscheiden, in welchem Umfang die Mathematik für sein Leben bedeutsam ist und welche Erfahrungen er im Umgang mit der Mathematik gemacht hat. Jedes Kind erschließt sich den Zahlraum der natürlichen Zahlen. Daher ist diese Frage auch eine Frage des menschlichen Seins. In diesem letzten Kapitel versuche ich eine persönliche Antwort darauf zu geben.

Die Wahrscheinlichkeitslehre und die Stochastik habe ich bewusst nicht miteinbezogen, weil ich diese eher als Modelle für den Begriff der Wahrscheinlichkeit und des Zufalls sehe, welche daher eher eine Anwendung der Mathematik darstellen, und weil diese den Umfang dieser Betrachtung zum Wesen deutlich überzogen hätte. Letzteres gilt auch für die Kategorientheorie.

Thomas Warzog, im November 2022.

Wesen der Mathematik

Zur Definition des Wesens finden wir in Wikipedia, dass das „Wesen als das wirklich Seiende in allen seinen Charakteren dem entgegengesetzt ist, was sinnfällig erfassbar ist, das heißt, es ist das Unsinnliche, das nur im Denken erfassbar ist.“ Die Mathematik ist „wesentlich“ in geistigen Gefilden beheimatet, auch wenn sie auf unsere sinnliche, physikalische Welt bezogen werden kann und sogar die Sprache und der Schlüssel zum Verständnis der Physik ist, ohne welche wir kaum physikalische Erkenntnisse präzise fassen können.

Ist ihre Beschaffenheit „wesentlich“ von der Erkenntnisfähigkeit des Menschen abhängig oder unabhängig?

Zumindest unterliegt sie nicht der Vergänglichkeit. Alle mathematischen Sätze sind zeitlos wahr, auch wenn der mathematischen Erkenntnisfähigkeit durch Kurt Gödels (1906-1978) Unvollständigkeitssätze Grenzen gezogen wurden. Stillt sich durch die Beschäftigung mit ihr nicht die Sehnsucht des Menschen nach einer überzeitlichen Ewigkeit, an der er dann teilhat?

Eine allgemeine Erfahrung der Mathematiker ist das berauschende Erlebnis der Erleuchtung in tiefer liegende mathematische Einsichten. Es ist befriedigend zu erkennen, dass mathematische Sätze in umfassendere Theorien eingebettet viel besser, einfacher und tiefer verstanden werden können.

Um mathematische Erkenntnisse zu gewinnen, bedarf es zum Teil einer enormen geistigen Anstrengung des Forschers. Der Forscher erkennt, dass mathematische Wahrheiten nicht leicht errungen werden können. Wenn sie sich einstellen, dann oft wie ein Geistesblitz, der sich wie eine Erleuchtung von Innen anfühlt, bei dem sich eine schöne Aus- und Einsicht auf eine mathematische Erkenntnis ergibt.

Als promovierter mathematischer Physiker habe ich eindrucksvoll erfahren, wie sehr die Natur durch die Sprache der Mathematik aufgeschlüsselt wird. Ohne die Anwendung der Mathematik auf die Physik kann der Mikrokosmos nicht verstanden werden. Welche Rolle nimmt die Mathematik also in der Naturforschung ein und wie ist das Verhältnis der Natur zu mathematisch gefassten Gesetzmäßigkeiten?

Das Wesen wird laut Definition in Wikipedia durch seine Charaktere bestimmt. Die Mathematik kann wesentlich als eine Idealisierung von Objekten unserer Anschauung aufgefasst werden. Einen mathematischen Punkt, ohne räumliche Ausdehnung, gibt es in unserer realen, geometrischen Anschauung nicht. Ich erinnere mich, dass meine Grundschullehrerin uns als Aufgabe stellte, einen Punkt so fein zu zeichnen, dass er fast keine Ausdehnung auf dem Papier habe. Sie wies darauf hin, dass dieser Prozess bis ins Unendliche fortgesetzt werden könne, doch real nicht erreicht werden kann, und der mathematische Punkt also eine Idealisierung in diesem anschaulichen Sinne darstelle.

Wenn die Mathematik kaufmännisch angewandt wird, befindet sie sich offenbar weniger im Epizentrum ihres Seins. Die bereits in der Mittelstufe des Gymnasiums eingeführten Sinus, Cosinus, Tangens, Logarithmus und Exponentialfunktionen werden den Schülern und Schülerinnen mit all ihren schönen Eigenschaften im Rahmen der reellen Analysis vermittelt. Wir erkennen jedoch ihre wahre Schönheit und ihre geheimen Beziehungen in der komplexen Analysis. Könnte man in diesem Sinne von einer Heimat von mathematischen Objekten sprechen?

In Wikipedia wird unter „Abstraktion“ ein gedankliches Verfahren verstanden, „durch das von bestimmten gegebenen, jedoch unwesentlich erachteten Merkmalen eines Gegenstands abgesehen wird.“ Das Wort „Abstraktion“ bezeichnet „den induktiven Denkprozess des erforderlichen Weglassens von Einzelheiten und des Überführens auf etwas Allgemeines und Einfaches.“ Dazu hat sich die spezifische Formelsprache der Mathematik als sehr segensreich erwiesen, weil dadurch ihre Komplexität durch Verwendung von Symbolen vereinfacht wurde. Beispielsweise verbergen sich hinter dem Integral- oder Differentialzeichen komplexe Grenzwertprozesse, welche durch jeweils ein Zeichen reduziert wurde. Die verbale Ausformulierung dieser würde die Mathematik praktisch nicht handhabbar machen. Noch in der Renaissance wurden aus heutiger Sicht komplexe Ausdrücke für algebraische Gleichungen verwendet. Umso erstaunlicher, dass die italienische Renaissance unter dieser schwerfälligen Syntax Lösungen für biquadratische Gleichungen angeben konnte.

Die natürlichen Zahlen werden als Inbegriff des Konkreten und des Einfachen von vielen Menschen empfunden. Dennoch sind sie das Ergebnis einer Abstraktion. Durch Abstraktionen können wesentliche Eigenschaften des Untersuchungsgegenstandes gewonnen werden. Unwesentliche Eigenschaften werden dabei ausgeklammert. Durch Abstraktionen werden die mathematischen Objekte weniger anschaulich und entfernen sich von der konkreten Sichtweise. Sie gewinnen aber an Allgemeingültigkeit und einer übergrei- fenden Sicht auf die konkreten mathematischen Objekte. Bei diesem Prozess können sich mathematische Sichtweisen verselbständigen und sogar zu neuen ungeahnten mathematischen Theorien führen. Abstraktionen sind also ein wesentliches Mittel der Mathematik und sind ihrem Wesen nach inhärent.

Unstrittig ist, dass die Wahrheit ein wesentliches Fundament der Mathematik ist. Mathematische Sätze sind wahr, obwohl sie selten einen Bezug zur Realität haben. Also muss es sich um geistige Wahrheiten handeln. In Wikipedia lesen wir zum Begriff der Wahrheit, dass „tiefergehende Betrachtungen Wahrheit als Ergebnis eines offenbarenden, freilegenden oder entdeckenden Prozesses des Erkennens ursprünglicher Zusammenhänge oder wesenhafter Züge“ sehen. Das Wesen der Wahrheit unterscheidet sich erheblich von dem Wesen der Mathematik allein dadurch, dass sie wesentlich mehr Wirklichkeitsbereiche umfasst. Wie ist also das Verhältnis der Mathematik zur Wahrheit zu sehen?

Ein sehr reduzierter Wahrheitsbegriff wurde von den Scholastikern mit dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten („non tertium datur“) etabliert. Dieser besagt, dass für eine beliebige Aussage nur die Aussage selbst oder ihr Gegenteil gelten kann. Eine dritte Möglichkeit wird ausgeschlossen. Diese rigorose philosophische Haltung hat sich zweifellos als sehr bedeutsam und fruchtbar für die Mathematik herausgestellt.

Jedoch hat das Wesen der Wahrheit auch mit der Erkenntnisfähigkeit des Menschen zu tun. Zwei Menschen können unterschiedliche Sachverhalte ganz unterschiedlich wahrnehmen und als „wahr“ oder „falsch“ bewerten. Als Folge dieser Betrachtung ergibt sich die Fragestellung, ob es eine absolute Wahrheit oder lediglich relative Wahrheiten gibt. Die Mathematik kennt keine relativen Wahrheiten. Ein mathematischer Satz wird von den Mathematikern nach eingehender Prüfung eines vorgelegten Beweises entweder als wahr oder falsch angesehen unabhängig von der Erkenntnisfähigkeit des jeweiligen Mathematikers. Also können sich Menschen unabhängig von ihrer Erkenntnisfähigkeit und Weltanschauung auf die Richtigkeit mathematischer Sätze einigen. Was ist der tiefere Grund dafür?

Der lateinische Leitsatz aus dem Altertum, dass die Schönheit der Glanz der Wahrheit „pulchritudo splendor veritatis“ sei, kann auch auf die Mathematik angewandt werden. Es gibt nicht wenige mathematische Sätze und Beweise, die von den Mathematikern als besonders schön empfunden werden. Die Schönheit wird hier unmittelbar mit der Wahrheit in Verbindung gebracht, obwohl beide Entitäten begrifflich auf den ersten Blick weit voneinander entfernt zu sein scheinen. Gibt es eine mystische Verbindung von Schönheit und Wahrheit in der Mathematik und wie könnte sie aussehen?

Ein anderer Leitsatz aus dem Altertum, dass das Einfache das Siegel des Wahren („simplex sigillum veri“) sei, kann ebenfalls auf die Mathematik angewandt werden. Wie viele mathematische Sätze sind besonders kostbar, weil sie besonders einfach in der Formulierung, aber sehr schwer zu erringen waren?

In den Schulen wird seit dem Altertum auf das Fach Mathematik großen pädagogischen Wert gelegt. Welchen Einfluss hat die Mathematik auf die Erziehung von Kindern und die Bildung von Menschen, ja auf unser Kulturleben? Meines Erachtens hat sie ihren größten Einfluss darin, dass sie uns einen Blick auf eine Idealität der Wirklichkeit gibt, die sich allgemeingültig auf die Wahrheit stützt. Diese Idealität transzendiert bereits die Wirklichkeit und zeigt dabei eine ihr selbst eigene Art der unvergänglichen Schönheit auf, an der wir dabei teilhaben dürfen.

Bedeutung der Mathematik

Zum Schluss meiner Betrachtung möchte ich auf die Bedeutung der Mathematik für unser Geistesleben eingehen. Die Mathematik ist uns Menschen inhärent, d. h. wir haben alle mit ihr eine mehr oder weniger ausgeprägte Beziehung. Nicht wenige Prominente des öffentlichen Lebens kokettieren gerne damit, dass sie mit dem Fach Mathematik in der Schule wenig anzufangen wussten. Die Mathematik scheint phantasievollen Menschen sehr nüchtern, ihre Ergebnisse im Vergleich zu Betrachtungen von Moral, des Worts und des Rechts eher lebensfern zu sein. Dennoch war seit dem Altertum das Fach Mathematik für die Erziehung von jungen Menschen zu allen Zeiten als sehr bedeutsam anerkannt.

Eine Sonderrolle unter den Wissenschaften nimmt die Mathematik bezüglich der Gültigkeit ihrer Erkenntnisse und der Strenge ihrer Methoden ein. Während beispielsweise alle naturwissenschaftlichen Erkenntnisse durch neue Experimente falsifiziert werden können und daher prinzipiell vorläufig sind, werden mathematische Aussagen auf rein geistigem Wege hervorgebracht und brauchen nicht empirisch überprüfbar zu sein. Für einen mathematischen Satz muss ein streng logischer Beweis gefunden werden, damit er als mathematischer Satz anerkannt wird. In diesem Sinn sind mathematische Sätze prinzipiell endgültige und allgemeingültige Wahrheiten, sodass die Mathematik als exakte Wissenschaft betrachtet werden kann. Gerade diese Ge- wissheit zieht viele Menschen an der Mathematik an. Wo findet man sonst Gewissheit in dieser Klarheit und Eindeutigkeit, auf die sich die Menschheit einigen kann?

Nicht wenige Menschen lieben die Mathematik, weil sie die Fähigkeiten ihres Verstandes ausbildet. Sie haben Freude daran, schwierige mathematische Aufgabenstellungen zu lösen. Bei der Lösungsfindung werden Mathematiker von einer unter Umständen langanhaltenden Suche im wahrsten Sinne des Wortes erlöst. Dies kann beinahe als ein religiöses Gefühl von Befreiung aus einem quälenden Zustand des Selbstzweifels und der eigenen Unzufriedenheit erlebt werden. Gleichzeitig kann er dann einen tiefen inneren Frieden bei der Betrachtung der jeweiligen mathematischen Lösung finden, die nicht selten eine merkwürdige Schönheit von geheimnisvollen Beziehungen zwischen mathematischen Entitäten zeigt. Meines Erachtens werden Mathematiker in diesem Moment sogar von einem Gefühl des Glücks von Schönheit, Wahrheit und Einsicht durchströmt. Wie wirken sich diese natürlichen Heureka Erlebnisse der Menschen auf ihre Charakterbildung aus?

Mir selbst erschien die Mathematik lange Zeit sehr formal und auch etwas nüchtern zu sein. Ihre kaufmännische Anwendbarkeit bei Prozentrechnung und Dreisatzaufgaben in Form der Lösung von einfachen linearen algebraischen Gleichungen schätzte ich als hilfreich für mein praktisches späteres Lebeb ein, begeisterte mich aber dafür nur bedingt. Etwas besser sah es bei der Vermittlung der euklidischen Geometrie aus. Dort faszinierten mich allgemeingültige geometrische Sätze wie beispielsweise das Schneiden der Mit- telsenkrechten, Winkel- und Seitenhalbierenden in einem Punkt. Dass diese Geometrie wichtig in den Architektur- und Bauwissenschaften sein würde, stand für mich fest. Daher freute ich mich darauf, dass ich diese theoretischen Kenntnisse vielleicht später anwenden könnte. In der Oberstufe meines Gymnasiums lernte ich die affine Geometrie in Form der Vektorrechnung und die Differential- und Integralrechnung kennen. Mich faszinierte und begeisterte zunächst ihre Anwendung auf die Newtonsche Mechanik. Dass mit ihrer Hilfe sogar der Mikrokosmos in Form der Quantenmechanik aufge- schlüsselt werden konnte und in der Relativitätstheorie sogar physikalische Ergebnisse theoretisch vorhergesagt wurden, die unserer gesunden menschlichen Anschauung einige Schwierigkeiten bereiten und experimentell bestätigt wurden, war für mich geradezu unglaublich. Dabei begeisterten mich eher die physikalischen Erkenntnisse von Raum, Zeit und Materie sowie bestimmte philosophische Betrachtungen zur Erkennbarkeit von Mikroteilchen bedingt durch die Heisenbergsche Unschärferelation, als die Mathematik selbst, die dies erst alles ermöglichte. Wird die Mathematik selbst bei ihrer überragenden Anwendbarkeit in so vielen Wissenschaften nicht selbst dabei in den Schatten gestellt?

Die meisten Betrachtungen zur Mathematik heben ihre Bedeutung für die Wissenschaften, für das einigende Band der Wahrheit jenseits der jeweiligen persönlichen Anschauungen und Überzeugungen hervor. Es finden sich auch Erörterungen zur Bedeutung der Schönheit in der Mathematik. Es wird von Mathematikern nicht selten darauf hingewiesen, dass die von ihnen hervor- gehobenen mathematischen Sätze besonders schön seien oder von ihnen als besonders schön empfunden werden. Es wird auch die Reinheit von mathematischen Disziplinen hervorgehoben, die jenseits säkularer Anwendungen als reine Mathematik bezeichnet werden. Hier findet man den Hinweis, dass es in diesen Disziplinen um die Mathematik selbst geht, nicht um ihre Dienstbarkeit für andere Fachgebiete, die ihr nicht originär zu eigen sind. Also widmet sich die reine Mathematik in besonderem Maße der Erforschung des ei- genen Wesens. Dieses scheint aber kein Kind von dieser Welt, im Sinne der von Menschen geschaffenen künstlichen Strukturen zu sein. Also muss es etwas Jenseitiges haben, was über uns Menschen selbst hinaus zu weisen scheint. Werden mathematische Wahrheiten auch dann bestehen, wenn es keine Menschen geben würde, die sie betrachten können?

Die höher entwickelte Tierwelt ist zu erstaunlichen kognitiven Leistungen fähig, jedoch hat sie keinen Zugang zur Mathematik. Sie hat keine Vorstellung von einer Zahl oder von einer geometrischen Figur in ihrer abstrakten Beschreibung. Daher ist die Mathematik allein der Menschheit zu eigen. Die Mathematik kann auch als Verheißung auf das wiederzuerlangende Paradies verstanden werden, in der die Vereinzelung auf einer höheren Stufe der Betrachtung aufgehoben und die Vergänglichkeit aller Dinge überwunden ist. So sind die Zahlen ein Abbild vergänglicher Dinge, sie selbst sind es jedoch nicht. Sie sind auch nicht isoliert, sondern in die gesamte Arithmetik und Algebra eingebunden. Kann die Mathematik in diesem Sinne sogar als ein Abbild des Paradieses angesehen werden?

Mathematiker lieben die Mathematik, sprechen aber nur selten über ihre Liebe zur Mathematik, noch weniger über die Bedeutung der Liebe in der Mathematik selbst. Wenn Menschen ihrem Leben der Mathematik geradezu weihen, dann wird diese Hingabe überwiegend von der Liebe zu ihr getragen sein. Warum ist die Mathematik für diese Menschen so liebenswert? Es gibt natürlich auch Menschen, die sie hassen und ihren Abscheu zum Ausdruck bringen. Mathematische Sätze drücken keine Gefühle von Liebe aus. Das ist merkwürdig, denn sie führt Menschen in den mathematischen Wissenschaften zusammen, die sich ihr intensiv widmen, und der Inhalt dieser Wissenschaft soll ohne Liebe sein? Das scheint doch paradox zu sein! Was ist das Geheimnis der Liebe in der Mathematik? Kann es sein, dass mathematische Sätze ein Ausdruck der Liebe sind, wenn viele Menschen sie sehr lieben? Mir selbst scheinen diese Fragen deshalb bedeutsam zu sein, weil sie von uns selbst in eine geliebte Königin verwandelt wird. Daher möchte ich mit dem Bekenntnis schließen: „Ich liebe die Mathematik.“

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