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Daniela Berg
Begreifen, was nicht ist.
E-Mails nach dem Tod meiner Tochter

Taschenbuch Januar 2018
160 Seiten | ca. 14,8 x 21,0 cm
ISBN: 978-3-96014-405-2


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Das Sterben und den Tod des eigenen Kindes mitzuerleben, ist für Eltern eine der größten und schrecklichsten Herausforderungen – mit der Trauer und dem Schmerz danach zu leben, ohne daran zu zerbrechen, ebenso. Vor diese Herausforderung sieht sich auch die Autorin gestellt, als ihre 15-jährige Tochter Marlene nur wenige Monate nach der Diagnose Krebs stirbt.
Sie hält während der letzten Lebenstage ihres Kindes und in der schmerzhaften Zeit danach ihre Gefühle, Gedanken und Reflexionen in E-Mails an Freunde, Handynotizen und Gedichten fest.

Die ausgewählten Texte ergeben eine Art Reisebericht über den Weg der Autorin durch die Trauer.
Sie zeugen vom ständigen Ringen darum, die unglaubliche Tatsache zu begreifen: „Unser Kind ist tot!“
Zugleich ist es ein Buch über Mut und Hoffnung, Freude und Glück, Liebe und Verbundenheit und gibt tröstende und vielleicht sogar hilfreiche Impulse für Menschen in ähnlichen Situationen, den eigenen Weg der Trauer zu gestalten.
VORBEMERKUNG: Im Original sind alle Zitate selbstverständlich mit den entsprechenden Quellenangaben versehen.

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23.11.2012
Betreff: Reise, Reise

Liebe Gabi,
heute Mittag haben wir die Klinik verlassen. Ich saß das erste Mal in meinem Leben in einem Krankenwagen. Die in den letzten Wochen so vertraut gewordene Strecke nahm ich darin vollkommen anders wahr als im eigenen Auto. Es war ja tatsächlich ein ganz anderes Heimkommen als sonst – durch das Wissen: Unser Kind kommt zum Sterben nach Hause.
Ich fühlte mich wie am Beginn einer großen Reise. Marlene würde sie unternehmen. Wir würden sie dabei begleiten – aber nur ein Stück. Etwas Fremdes, Unbekanntes lag vor ihr, vor uns allen. Eine Reise ins Ungewisse. Ohne Navi, ohne Karte, ohne Kompass. Was würden uns diese nächsten Tage oder vielleicht Wochen bringen?
Die Kinderpsychologin der Klinik versicherte uns, dass wir wüssten, was dann von Tag zu Tag dran wäre und zu tun sei. Das konnte ich mir vorstellen. Nach Marlenes Geburt erlebte ich es ja genauso: intuitives Wissen. Jetzt entdecke ich manche Parallelen zwischen ihrem Kommen auf diese Welt und ihrem Gehen: beides ungeplant, so gar nicht zur rechten Zeit – für uns. Marlene bestimmt das Wann und Wie, tat es damals und wird es jetzt wieder tun. Sie geht ihren ganz eigenen Weg und gibt unseren Lebenswegen damit eine neue Richtung. Wir können nur an ihrer Seite sein, mit ihr sein und aushalten: ihre Traurigkeit über diese unendliche Schwäche, dass ihr Körper so gar nicht mehr macht, was sie will . . .
Beim Schlafen gibt sie seit ein paar Tagen seltsame Laute von sich, seufzt und stöhnt. Wenn ich sie darauf anspreche, erzählt sie, dass sie träumt und dabei spricht. Sie träumt viel. Manchmal wirkt es auf mich, als sei ein Teil von ihr schon anderswo. Dann aber erlebe ich sie wieder ganz wach und ganz hier.
Ich frage mich, warum Marlene eigentlich nie weint, nie mit ihrem Schicksal hadert. Das steht so sehr im Kontrast zu der tiefen Verzweiflung, die mich oft ungefragt überkommt. Die Psychologin meinte, dass Kinder noch viel mehr mit der geistigen Welt verbunden sind als wir. Möglicherweise macht es für sie gar keinen so großen Unterschied, ob sie hier bei uns ist oder von irgendwo anders als Schutzengel über uns wacht. Und deshalb ist es für sie vielleicht weniger schwer, das Sterben anzunehmen. Außerdem ist es durchaus möglich, in Verbindung zu bleiben. Marlene würde ja nur vorangehen. Das zu hören, tat mir gut.
Liebe Grüße,
D.


27.11.2012
Betreff: …

Lieber Leo,
dreieinhalb Stunden habe ich versucht zu schlafen, dann gab ich es auf. Ohne Gefühl ziehen die Gedanken durch meinen Kopf. Eine dumpfe Ruhe hüllt mich ein.
Marlene ist gestern Abend gestorben.
Wir haben sie gewaschen und eingeölt, diesen zarten, von der Krankheit so veränderten Körper, zogen ihr ihr Lieblingskleid an und lasen ihr lange vor: „Das Buch von allen Dingen“.
Ein großer Friede lag über allem.
Ich melde mich wieder.
D.


leer
der stuhl am frühstückstisch
– er bleibt leer aus deinem zimmer dringt kein laut
die kleidung in deinem schrank
– niemand trägt sie mehr
bücher, die nicht gelesen werden
ungehörte musik
im keller das fahrrad dessen räder stillstehen

zu wissen, es geht dir gut
– dort, wo du jetzt bist –
ist ein kleiner lichtblick
aber hier fehlst du
an allen ecken und enden
auf schritt und tritt
in so ziemlich jedem augenblick
ein fehlen
wie ein loch im herzen
und die ahnung
dass es für lange dort bleiben wird
ein stück weit vielleicht für immer
wie sollte es nicht


6.12.2012
Betreff: Wieder ein Schritt

Lieber Leo,
Zuerst hielten sich vier, dann zeitweise sieben Mädels aus Marlenes Klasse gleichzeitig in ihrem Zimmer auf. Ich hatte sie eingeladen zu kommen, um einen Stern auf den Sarg zu malen. Zu Beginn standen sie ehrfürchtig davor und bewunderten den schönen türkisfarbenen Engel auf dem grünen Sargdeckel. Keine traute sich so recht, den Anfang zu machen. Unter viel Geplapper – „Ich weiß ja gar nicht, wie man einen Stern malt.. “, „Ich kann überhaupt nicht malen ...“, „Ich hab Angst, alles zu versauen. . . “, „Willst du nicht für mich . . .“, „Oh, deiner ist so schön und meiner . . .“ – hinterließ dann jede ihren persönlichen silberfarbenen Gruß. Ich fotografierte, plauderte ein wenig, freute mich an dem Leben in der Bude, konnte mir vorstellen, Marlene säße irgendwo mittendrin oder würde jeden Augbenblick dazustoßen. Nach dem Malen wollten die meisten noch bleiben, um Marlenes Zimmer anzuschauen und gemeinsamen Erinnerungen nachgehen. Ich zog mich ins Wohnzimmer zurück.
Bis zum Abend kamen dann noch einmal fast alle, die schon am Dienstag der vorangegangen Woche von Marlene Abschied genommen hatten und malten ihren Stern auf den Sarg. Wieder ein Stück Abschied. Beim Anblick des Sarges und mit dem Pinsel in der Hand sicher ebenso wieder ein kleines Stück mehr Begreifen. Wieder ein paar Stunden Gemeinschaft, die Trauer teilen ...
Heute Vormittag statteten wir Marlenes Sarg für ihre Reise in das ferne Land aus, in das wir ihr irgendwann folgen werden:
ein Gedicht über einen kleinen Engel von meiner Schwester,
ein ungeschliffener Rosenquarz von Birgit,
ein Pfefferkuchenherz als Wegzehrung von ihrem Bruder,
eine Feder für ihre Flügel von Monique und Gerda,
ein bunter Papierschmetterling von Simone,
ein winzig kleiner Glaselefant von Linde,
ein Kettenanhänger mit Fotos und ein Brieflein von uns,
ein Comic von Ralph Ruthe, Frida, ihr dienstältestes Kuscheltier.

Zwischendurch fragte ich mich manchmal: Was mache ich hier eigentlich? Ist das nicht der pure Aktionismus? Dient das nicht alles bloß der Verdrängung, dem Nicht-wahr-haben-Wollen? Ich glaube, es ist vor allem dieses Aufbegehren, das sich bald nach Marlenes Tod in mir regte: Wenn diese Sch...e nun schon sein muss, dann will ich es richtig machen, das heißt: so wie ich es will, so wie es mir passt. Keine halben Sachen. Ganz oder gar nicht. Meine Antwort auf das Schicksal. Meine Art, mich ihm zu stellen.
Gleich wird es klingeln und der Sarg wird abgeholt. Ein weiterer Schritt auf dem Weg durch die „Schleusenzeit“ wie Ruthmarijke Smeding die Tage oder Wochen zwischen dem Tod eines Menschen und dessen Beerdigung nennt.
Morgen dann das große Ganze. Und dann ...


27.12.2012
Betreff: Der Unterschied

Lieber Leo,
die Feiertage sind geschafft. Insgesamt ging es nicht so schlecht, wie ich befürchtet hatte. Nur zwischendrin kam ich mir hin und wieder ziemlich fehl am Platz vor. Seit gestern versuche ich zu ergründen, woher dieses Gefühl kommt. Heraus fand ich: Als fehl am Platz empfinde ich mich dann, wenn ich keinen Raum spüre für das, was mir mit Blick auf Marlene und die Trauer um sie durch den Kopf oder durchs Herz geht – beim Essen, beim Geschenke Verteilen, in den Gesprächen. Im Grunde ist sie ja die ganze Zeit in mir. Jede Minute geschieht irgendetwas, was meine Gedanken zu ihr wandern lässt. Davon würde ich dann manchmal gerne erzählen. Oder davon, wie sehr sie mir fehlt. Oder davon, was die Trauer zur Zeit am Schwersten macht ...
Es ist nicht so, dass ich ständig darüber reden will oder muss. Entscheidend ist das Gefühl, dass ich es könnte, wenn ich wollte. Das Gefühl, dass Marlene da sein darf, ohne dass die Menschen in betretenes Schweigen verfallen, wenn ihr Name fällt, oder das Thema wechseln, oder . . . Allerdings ist das wohl kein ungewöhnliches Phänomen. „Es ist eine Seltsame Nebenerscheinung meines Verlustes, dass ich spüre, wie ich jedem, der mir begegnet, eine Verlegenheit bedeute“, schreibt Clive Staples Lewis.
Weißt du, Leo, zeitweise kommt es mir vor, als sei ich jetzt zwei verschiedene Mütter: Nach außen habe ich nun ein Kind, in meinem Inneren nach wie vor zwei. Nicht immer passen beide Mütter zusammen. Nicht immer können sie nebeneinander sein.
Trauern beinhaltet wohl auch, eine neue Identität zu finden, sich mit dieser Identität auseinanderzusetzen, zu arrangieren, anzufreunden. Ich soll jetzt die sein, deren Tochter gestorben ist? Die Mutter, die ihr Kind verloren hat? Wie kann das sein, wo ich doch gerade noch eine ganz andere war? Und seit wann muss ich mir vorschreiben lassen, wer ich zu sein habe?! Habe ich das bisher nicht stets alleine ausgesucht und bestimmt?
Nun fühle ich mich meines früheren Ichs beraubt. Und das neue Ich mag ich nicht, will ich nicht, passt mir nicht. Wo ist der Retourschein?
Grüß die See von mir!


sechs monate nach deinem tod

sechs monate nach deinem tod noch immer das nicht-begreifen
nicht begreifen
können
wie kann man begreifen, was nicht ist?
das nichts
das nie mehr
das für immer ohne dich

sechs monate nach deinem tod
noch immer das nicht-begreifen
nicht begreifen
wollen
zurückschrecken vor
dem nichts
dem nie mehr
dem für immer ohne dich

sechs monate nach deinem tod
noch immer das nicht-wahrhaben
nicht wahrhaben
können
wie kann wahr sein, was nicht ist?
das nichts
das nie mehr
das für immer ohne dich

sechs monate nach deinem tod
noch immer das nicht-wahrhaben
nicht wahrhaben
wollen
als würde es erst durch mein wollen
wahr
das nichts
das nie mehr
das für immer ohne dich

sechs monate nach deinem tod
und noch immer
rebelliere ich gegen diese wahrheit
weigere mich zu begreifen
begehre auf
gegen
das nichts
das nie mehr das für immer ohne dich

auch wenn ich weiß
dass das alles nichts nützt



12.5.2013
Betreff: Den Blick erweitern?

Lieber Leo,
gestern, auf der Rückfahrt aus der Sächsischen Schweiz, machten wir einen kleinen Zwischenstopp bei Freunden, nach der Geburt des letzten Kindes vor einer Woche nun eine siebenköpfige Familie. Der Kontrast zu unserem beschaulichen Kleinstfamilienleben hätte kaum größer sein können. Ich erfreute mich an dem Trubel und der Lebendigkeit im Haus. Friedrich schien es zu gefallen, wenn die Kleinen auf ihm rumtobten oder ihn in ihre Spiele einbezogen.
Zwischendurch musste ich manchmal intensivst aus dem Fenster schauen, um die Tränen wegzublinzeln und den Kloß im Hals runterzuschlucken. Nicht dass ich ihnen ihr Glück nicht gönne Oder mit ihnen tauschen möchte. Es ist nur so, dass ich zwei Kinder prima fand, für uns als Eltern und für die beiden miteinander.
Wie Schade für Friedrich, dass er nun ein Einzelkind ist, keine Schwester mehr hat! Marlene und er haben sich toll verstanden. Ich frag mich, wie sehr sie ihm wohl fehlt. So richtig viel und gerne redet er mit mir nicht darüber. Abends höre ich ihn manchmal im Bett weinen. Wenn ich ihn dann trösten will, beschwert er sich: Schließlich hätte ich gesagt, er solle die Tränen nicht zurückhalten, wenn ihm nach Heulen ist, dann müsste ich das auch aushalten. Aber welche Mutter kann das einfach ertragen?! Mir fällt es jedenfalls schwer.
Schwer fällt mir auch nach sechs Monaten noch das Begreifen. Friedrich meinte neulich in seiner zunehmend direkter und konfrontierender werdenden Art: „Weil du es nicht begreifen willst!“ Wahrscheinlich hat er recht. Und dass ich so verzweifelt darum ringe, macht es sicher nicht besser. „Ich bin es, der – mit seinen unaufhörlichen Versuchen zu begreifen – diese Situation unbegreiflich macht“, schreibt dazu Pieter Frans Thomése. Ist vielleicht, wie so oft, das Annehmen der entscheidende Schritt? Das Annehmen des Nicht-begreifen-Könnens? Dennoch frage ich mich: Wieso habe ich eigentlich solche Mühe damit? Begegnet es mir im Leben nicht ständig, dass etwas endet und dann vorbei ist? Allerdings fängt danach ja fast immer was Neues an. Nach der Kindheit kommt die Jugend, nach der Schulzeit die Ausbildung, nach der ersten Liebe irgendwann die Zweite. Vielleicht lebe ich deshalb in der Erwartung und mit der Vorstellung, dass es ewig so weiter gehen muss?
Die Erfahrung des Todes in seiner Endgültigkeit erschüttert diese Vorstellung. Sie lässt sie mir wie eine große Illusion erscheinen. Marlenes Leben ist zu Ende und nichts geht weiter. Für sie und für uns mit ihr. Aus der Erfahrung, wie Schwer es ist, dieses Nichts zu begreifen, eben Zu begreifen, was nicht ist, entstand auch das oben stehende Gedicht.
Aber vielleicht irre ich mich ja auch. Was würde passieren, wenn ich mich traute und es mir gelänge, meinen Blick zu erweitern und über den Horizont hinauszuschauen? Vielleicht könnte ich entdecken, dass es durchaus etwas gibt nach dem Tod, dass das Leben sehr wohl eine Fortsetzung erfährt, nur in einer anderen Dimension, zu der ich nicht ohne Weiteres Zugang habe? Vielleicht wäre es mir möglich, mit einer solchen veränderten Betrachtungsweise zu erkennen: Sogar hier bleibt mehr als das Nichts. Es geht weiter, aber nicht wie bisher. Marlene bleibt in meinem Leben, bleibt Teil dieses Lebens, allerdings in einer anderen Form. Dass es eine harte Nuss ist, sich auf dieses „anders“ einzulassen und es anzunehmen, davon erzählt auch der Text „Willkommen in Holland“ von Emily Perl Kingsley. Sie schreibt darin von ihren Erfahrungen damit, ein behindertets Kind großzuziehen und vergleicht dies mit einer Reise, die so ganz woandershin führt, als geplant war. Am Ende heißt es:
„Und diesen Verlust wirst du niemals ganz überwinden, denn der Verlust dieses Traumes ist ein bedeutender Verlust. Aber wenn du dein Leben damit verbringst, der Tatsache hinterherzutrauern, dass du nicht nach Italien gekommen bist, wirst du niemals diese ganz speziellen, ganz liebenswerten Dinge genießen können, die es in Holland gibt – wie den herrlichen Duft und die wunderbaren Farben der Tulpen, die dort einzigartig sind.“
D.



19.11.2013
Betreff: Glück im Unglück

Liebe Gabi,
gestern sah ich eine Reportage der ARD-Themenwoche „Zum Glück“. Die Sendung und vor allem die Buchidee von radioeins regten mich zu der Frage an, was für mich – angesichts der Ereignisse und Erfahrungen der letzten Zwei Jahre – „Glück“ bedeutet. Dabei entstand der folgende Text.
Ich wünsche dir viel Mut zum Glücklich-Sein, liebe Gabi!
D.

Glück im Unglück
Mein Glück, wie ich es bis dahin kannte, zerfiel in tausend Stücke als wir im Juni des letzten Jahres erfuhren, dass unsere 15-jährige Tochter an Krebs erkrankt war. Doch in den darauffolgenden Wochen und Monaten erlebte ich immer wieder voll Erstaunen und Verwunderung, dass das Glück wohl zerbrochen sein mochte, jedoch dadurch nicht gänzlich aus meinem Leben verschwand. Es blieb – in einer neuen, veränderten Gestalt. Fortan gab es viele kleine Scherben, die sofort aufblinkten, wenn nur der kleinste Sonnenstrahl unseres Mutes zum Glücklich-Sein auf sie fiel.
Glück und Unglück sind seitdem für mich kein Entweder-Oder mehr. Sie sind für mich ein Auch, denn sie können zur gleichen Zeit nebeneinander existieren – wenn ich sie lasse. So gab es bei allem Kummer, allen Sorgen, allen Ängsten, bei all dem Unglücklich-Sein viele Situationen, Entwicklungen und Erlebnisse, vor die ich heute ein „zum Glück“ setze:
Zum Glück konnten wir während ihrer Krankheit mit Marlene mehr Zeit zu Hause verbringen als im Krankenhaus.
Zum Glück erlebten wir noch einen ganzen sommer mit ihr und einen wunderbar milden Herbst, in dem wir Kraft und sonne tankten.
Zum Glück gab es Tage ohne Schmerzen und viele Augenblicke stillen, tiefen Erfüllt-Seins:
in Warnemünde am Strand,
an der Havel unter Bäumen,
an ihrem Bett sitzend und vorlesend.
Es war ein Glück, dass Marlene keine Angst vor dem Tod hatte.
Es war ein Glück, dass sie zu Hause starb und dass wir bei ihr sein konnten.
Es war ein Glück, dass wir in jeder Hinsicht so von ihr Abschied nehmen konnten, wie wir es wollten.
Es war und ist ein Glück, dass es viele Menschen in unserem Leben gibt, Freunde und Familie, die immer für uns da sind.
Es ist ein riesengroßes Glück und Geschenk, unseren Sohn zu haben.

Am 26. November wird ein Jahr vergangen sein, seit Marlene gestorben ist.
365 Tage, die wir um sie und um unser Leben mit ihr trauern.
365 Tagen, an denen wir unser Starkes, fröhliches, glückliches Kind vermissen, uns nach ihm Sehnen.
Viele solcher Tage warten noch auf uns.
Doch was für ein Glück, dass sie 5768 Tages ihres Lebens auf dieser Welt mit uns teilte und uns in dieser Zeit unendlich viele Glücksmomente schenkte.
Glück ist, es immer wieder zu entdecken – vor allem und gerade dann, wenn es am wenigsten zu sehen ist.



nun, nach einem jahr

nachgelassen der schmerz?
er ist seltener geworden
doch kommt er, dann mit seiner alten wucht

gewöhnt ans nur-noch-dreis?
was bleibt anderes übrig
es hat ja auch was rundes:
vater, mutter, kind
aller guten dinge sind drei?
meine heilige zahl bleibt die vier
neid regt sich in mir, erleb ich sie bei anderen
ich such uns zu ergänzen, wann immer es geht

abgefunden mit der endgültigkeit?
ja – nein – vielleicht – nein!
manchmal scheint es so, als ob
doch im nächsten augenblick bricht das nie-mehr über mich herein Setzt sich auf meine brust wie ein sSchwerer traum
nimmt mir die luft wie könnte ich mich jemals abfinden?!
ein kind in dieser welt
eins in der andern
mein kind bleibt tot das Sehnen bleibt lebendig
und doch ganz langsam: mit jedem tag ein wenig heller und leichter



24.9.2014
Betreff: Figuren im Regal des Lebens

Liebe Kerstin,
du schreibst, dass deinem Mann die Therapie gut zu tun scheint. Kannst du sagen, wie genau sich dadurch seine Art, die Krankheit und den Tod eures Sohnes zu sehen, verändert hat?
Seit Marlenes Diagnose finde ich die Erkenntnis überaus wertvoll, dass wir zumindest bestimmen können, wie wir auf eine Sache schauen und welche Bedeutung wir ihr beimessen, selbst wenn wir an den Fakten an sich nichts ändern können. „Verändere deinen Blick auf die Dinge und sie verändern ihr Wesen“, steht auf der Startseite meiner Homepage. Der Spruch bringt das gut auf den Punkt.
Zum Thema „Umgang mit einem solchen Verlust“ fiel mir ein Bild ein, das die Beraterin einer Anlaufstelle für Frauen und Mädchen einmal entwarf. Die Frage an sie war, ob eine Frau, die jahrelang missbraucht wurde, jemals wieder glücklich sein und ein normales Leben führen könne. Als Antwort kam von der Beraterin ein entschiedenes Ja. Sie Sprach davon, dass man sich die menschliche Existenz vielleicht als eine Art Regal vorstellen könnte. In den einzelnen Fächern stehen unterschiedlichen Figuren: Dinge, die wir erlebt haben, Ereignisse, die uns widerfahren sind, Menschen, denen wir begegneten, alles, was Spuren in uns hinterlassen und uns geprägt hat. Der Missbrauch ist eine solche Figur. Ich kann sie entweder fest in der Hand halten und sie mir ständig dicht vor Augen führen. Dann wird sie mir wahrscheinlich beängstigend groß erscheinen, und ich werde kaum in der Lage sein, daneben noch irgendetwas anderes wahrzunehmen. Schaffe ich es jedoch, die Figur irgendwann in ein Fach des Regals zu stellen, dann ist es mir möglich, zurücktreten und sie dort neben anderen zu sehen. Sie verschwindet dadurch nicht. Sie wird immer dort bleiben und kann angeschaut oder zur Hand genommen werden – jedoch lediglich als eine von vielen verschiedenen Figuren. Dadurch relativiert sich ihr Stellenwert und der Platz, den sie einnimmt.
Die Trauer um einen geliebten Menschen oder der Verlust, den sein Tod bedeutet, ist vielleicht genau so eine Figur. Und ich kann mich, zumindest in einem gewissen Maße, entscheiden und bestimmen, welche Größe und Bedeutung sie für meine Existenz haben soll. Soll sie bis zum Ende meiner Tage als das alles Bestimmende gelten, neben dem nichts anderes mehr Raum hat? Oder soll sie als eine von vielen Figuren im Regal meines Lebens stehen?
Damit will ich nicht leugnen, dass der Tod des eigenen Kindes etwas Schreckliches ist, etwas, das ich meinem größten Feind nicht wünschen würde, etwas, das unendlich schwer wiegt und ganz und gar nicht einfach wegzustecken ist. Dennoch möchte ich mich nicht bis an mein Lebensende als Opfer fühlen, dem das Schicksal, die Vorhersehung oder wie man es nennen will, etwas Furchtbares zugefügt hat und für das deshalb nie wieder die Chance auf ein gutes, schönes Dasein besteht.
Ja, es gibt diesen Verlust, es gibt die Trauer um Marlenchen in meinem Leben und mein Leben ist mehr als Trauer und Verlust. Vielleicht werde ich mich tatsächlich nie mehr so leicht und unbeschwert fühlen wie vor ihrer Krankheit. Doch ich kann glücklich sein, wenn ich es will und mich traue. Davon bin ich überzeugt.
Du hast es ja selbst entsprechend beschrieben: Es gibt weiterhin schöne Momente und wir dürfen sie zulassen, auch wenn tiefer Schmerz und Frohsein manchmal unglaublich dicht nebeneinander liegen! Wenn ich Samstag früh auf den Markt und anschließend mit frischen Blumen auf den Friedhof gehe, dauert es nur Minuten und ich bin traurig und vermisse Marlene wie am ersten Tag. Dann ist es mir fast unmöglich zu verstehen, wie ich zwischendurch überhaupt an etwas anderes denken und unbekümmert sein kann. Und eine Stunde später sitze ich mit meiner Nachbarin auf dem Hof, wir lassen uns die Sonne ins Gesicht scheinen und freuen uns an dem herrlichen Spätsommer, der frischen Luft, den kräftig leuchtenden Blumen, dem Gurren der Tauben über uns in den Ästen der alten Linde. Traurigkeit und Kummer sind wie weggeblasen – bis zum nächsten Mal.
D.

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