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Monika Schubert, Ralph Ronneberger
Alles Liebe
Ein Buch mit Geschichten, Gedichten und Gemälden

Hardcover Oktober 2025
300 Seiten | ca. 18,4 x 24,5 cm
ISBN: 978-3-98913-216-0


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€ 34.90 *
Liebe in all ihren Farben, Facetten und Stimmungen

Inhaltsangabe
Dieses Buch nimmt Sie mit auf eine berührende Reise durch die Vielfalt dieses Gefühls, das wir Liebe nennen und das prägend auf unser Leben wirkt.
In einfühlsamen Geschichten und poetischen Gedichten spüren wir der Zärtlichkeit nach, entdecken Lust und Verlangen, erleben sowohl Sehnsucht als auch Loslassen. Von zarten ersten Blicken bis hin zu tief verwurzelter Verbundenheit zeigt „Alles Liebe“ einen großen Teil der unendlich vielen Formen, welche die Liebe annehmen kann.
Im ersten Teil werden einige aus der Vielzahl von Möglichkeiten beleuchtet, wie und woraus Liebe entstehen oder wiederbelebt werden kann.
Im zweiten Kapitel steht die Tatsache im Vordergrund, dass uns die Liebe unser ganzes Leben in verschiedenen Formen und unterschiedlich wahrgenommener Bedeutung begleitet, und dass sie sehr wohl kein Alter kennt.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich auf nicht ernstzunehmende Art mit der Frage, ob es Liebe auch in der Tierwelt gibt. Dass die ausgewählten Tiere arg vermenschlicht wurden, ließ sich nicht vermeiden.
Die Liebe zur Natur, die im vierten Abschnitt im Vordergrund steht, soll zeigen, dass die Sensibilität, die uns das Bewundern der Natur verleiht, auch die Empfindsamkeit gegenüber dem geliebten Menschen positiv beeinflusst.
Am Ende stehen dann Texte, die verschiedene Kuriositäten in Sachen Liebe aufgreifen. Genauso wie in den vorangegangenen Kapiteln stellt auch das letzte nur einen kleinen Ausschnitt aus all dem dar, was in der Liebe möglich sein kann und erlebbar ist.
Die zahlreichen Gemälde und Zeichnungen sind zwar bestimmten Texten vorangestellt, sie illustrieren aber nicht das unmittelbare Geschehen in den Geschichten und Gedichten, sondern stehen in lebendiger Verbindung mit deren Inhalten. Somit erweitern sie das Gefühlserlebnis des Lesers auf eine einzigartige Weise.
Und nun tauchen Sie ein in die Fülle von heiteren und besinnlichen Geschichten und Gedichten. Dafür wünschen wir viel Vergnügen.

Kennwort Rucksack
Monika Schubert

Uff, endlich sitzen. Runter mit dem Rucksack. Evi wirft ihn auf den freien Stuhl neben sich. Hier ist es gemütlich. Und Schatten. In diesem Kaffee ist es schwer, einen Tisch zu ergattern. Nachdem sie einen großen Cappuccino bestellt hat, lehnt sie sich entspannt zurück und schließt die Augen. „Mit fünfundsechzig brauche ich mal eine Pause“, ächzt sie.
„Kennwort Rucksack?“ Zwei Worte, die das Gemurmel der anderen Gäste übertönen. Sie reißen Evi aus dem Nichtsdenken. Widerwillig hebt sie einen Spalt weit die Augenlider. Ein kariertes Hemd ragt über den Tisch, knittrig wie gealterte Haut. Die hellblauen Kästchen auf weißem Grund sind verblichen. Ihr Blick wandert höher, bleibt am Gesicht eines Mannes hängen. Im Schatten der Markise wirkt es wie eine verblasste Fotografie. Zwei dunkle Augen sind forschend auf sie gerichtet. Evi betrachtet ihn verunsichert. Kenne ich den? Ist das der Fred, der auf meiner Vernissage ein Bild gekauft hat? Ach nö, dessen Haare waren nicht so grau.
Der Mann wendet sich ab und kramt in einer Einkaufstüte. Diese knistert, es klingt wie ein Schwatzen, ehe sie einen Blumenstrauß frei gibt.
„Für Sie“, sagt der Fremde.
Evi fragt sich, was das bedeutet. Hofft er, dass sie ihm die gelben Rosen abkauft?
Er führt den Strauß näher, bis knapp unter ihre Nase. Die Blüten duften.
Ein Geschenk? Warum? Mit zögernder Bewegung nimmt sie die Blumen.
„Fassen Sie nur zu, sie sind nicht zerbrechlich.“
Doch sie hat das Gefühl, damit ein Zugeständnis zu gewähren. Prompt legt sie das Präsent auf den Tisch. Sie überlegt, immer noch, ob sie den Mann kennt.
Für ihn scheint dagegen alles klar zu sein. Er streicht seine Haare glatt und setzt sich auf den freien Stuhl ihr gegenüber.
„Das Kennwort ist ‚Rucksack‘, so haben wir es ausgemacht“, erklärt er mit Nachdruck in der Stimme.
„Und wo ist Ihr Rucksack?“, interessiert Evi.
„Vom Alter her passt es“, stellt er fest, ohne auf ihre Frage einzugehen.
Sie ist irritiert.
Ist das so‘n blöder Anmachtrick oder eine Verwechslung, rätselt Eveline.
Doch ehe sie Klarheit erlangt, bemerkt er: „Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.“
„Ich bin nicht gekommen. Äh, hier liegt eine Verwechslung vor“, protestiert sie.
„Aber es passt doch, der Rucksack, das Alter“, stellt er fest und sein Tonfall lässt vermuten, dass er versucht, sich selbst zu überzeugen.
Der gibt nicht auf. Wie werde ich ihn wieder los? Evi zwingt sich zu einem: „Es ist Zeit, nach Hause zu fahren.“
Der Mann ihr gegenüber lacht auf, denn in diesem Moment bringt die Kellnerin den Kaffee.
„Na, den werden Sie doch trinken. Außerdem glaube ich, Sie warten auf jemanden.“
„Wie kommen Sie darauf?“ Sie sieht ihn fragend an.
„Ich sah Sie vorhin wie ein Erdmännchen die Straße absuchen.“
Evi reagiert nicht, denn ihr fährt ein Gedanke durch den Kopf, eine Art Rettungsplan. Den Blick auf ihre Hände gerichtet, erklärt sie: „Mein Freund, der wird gleich kommen. Und Sie warten doch auf Ihre Verabredung.“
Der Mann zieht seine Augenbrauen zusammen und scheint nachzudenken. Evi empfindet etwas Mitleid mit ihm, wie er so zusammengesackt mit hängenden Schultern vor ihr sitzt. Um sich zu sammeln, fährt er mit der rechten Hand über sein Gesicht. Dabei hellt sich seine Mine auf.
„Wir könnten gemeinsam warten“, schlägt er vor und meint sicher damit, auf seine Verabredung und ihren Freund. Um seinem Vorschlag eine gewisse Entschlossenheit zu verleihen, sucht er Blickkontakt zu ihr.
Überrascht von seiner Gemütswandlung strafft Evi ihren Rücken, konzentriert sich auf ihr Gegenüber. Dann stellt sie ihren Rucksack griffbereit auf ihren Schoß. Sein Blick wandert hinterher.
„Hat Ihr Freund ihnen den geschenkt?“
„Nein, ich habe ihn nur wegen dem Kennwort bei mir,“ meint sie spöttisch, Beide lachen.
Sie sieht auf die Uhr. „Es wird Zeit, dass ich bald aufbreche.“
„Gut. Wie lange können Sie bleiben? Eine Stunde?“
„Höchstens dreißig Minuten.“ Evi kaut auf ihrer Unterlippe herum und fixiert ihre Kaffeetasse. Sie erinnert sich daran, dass sie vorhatte, nur in Ruhe einen Kaffee zu trinken.
„Okay, das reicht“, sagt er nach kurzem Zögern.
„Wie meinen Sie das?“
„Ich schlage Ihnen eine Wette vor.“
„Was bedeutet das?“
„Wessen Partner zuerst da ist, gewinnt“, erklärt er und wirkt amüsiert.
„Und worum wetten wir?“
„Um einen Tag.“
Sie überlegt und er beantwortet ihre nicht gestellte Frage. „Wenn meine erwartete Partnerin zuerst da ist, schenken Sie mir einen Tag oder umgekehrt.“
„Einen Tag verschenken?“, fragt sie, obwohl sie ahnt, was er meint.
„Sie schlagen mir einen gemeinsamen Ausflug vor, wenn ich gewinne.“
„Häh!“ Ungewollt prustet sie in ihre Kaffeetasse. Spinnt der? Ich ziehe doch nicht mit einem Wildfremden durch die Gegend.
„Wenn keine von den erwarteten Personen kommt, fällt der Geschenktag aus“, setzt er hinzu.
Das beruhigt Evi, denn sie vermutet, dass niemand kommen wird. Alles spricht dafür, dass ihn seine Date-Partnerin versetzt, und ihr Freund ist ohnehin erfunden.
Zur Überbrückung der angedachten halben Stunde bestellt Evi sich eine Eisschokolade und er entscheidet sich für das Gleiche. Sie warten auf das Eis und jeder hängt seinen Gedanken nach. Evi zeichnet dabei mit dem Finger die Muster der farbenfrohen Tischdecke nach.
„Ich bin übrigens Dietmar, aber meine Freunde nennen mich Didi,“ stellt er sich vor. Er zieht seine rechte Augenbraue hoch und deutet ein Nicken an, welches wie eine stille Aufforderung wirkt.
Didi, wie albern, findet sie, bevor sie sich aufrafft, ihren Namen zu nennen.
„Eveline“, sagt sie, ohne vom Muster der Tischdecke aufzusehen.
„Sie malen gern?“, vermutet Dietmar.
„Oh, ja“, rutscht es ihr heraus. Ihre Augen leuchten für einen Moment auf. Kurz treffen sich ihre Blicke, doch Evi senkt gleich wieder den Kopf.
„Welche Motive malen Sie am liebsten?“
Er ist froh, ein Gesprächsthema gefunden zu haben, argwöhnt sie. Darum antwortet sie schroff: „Porträts“, und forscht in seinem Gesicht nach Anzeichen für ehrliches Interesse.
„Ist es schwierig, ein Konterfei mit Ausdruck und Emotionen darzustellen?“ Kurz hält er inne und wartet, bis die Kellnerin die Eisgetränke serviert hat.
„Gehört dazu Fantasie?“
„Nein. Das reine Treffen der Ähnlichkeit ist vor allem eine Frage der Übung. Das Einbetten in einen Kontext hingegen verlangt Kreativität und Ideenfindung.“
„Ich würde Ihre Bilder gern sehen.“ Er scheint es ernst zu meinen.
„Wenn Sie gewinnen, besuchen wir gemeinsam die Ausstellung, die ich kürzlich eröffnet habe“, lässt sich Evi zu dem Vorschlag hinreißen. Ihr strahlender Blick verrät eine geheime Freude.
„Ich finde es ganz reizvoll, wie Sie mit den Augen lächeln“, schmeichelt er.
Das Eis zwischen ihnen scheint schneller zu schmelzen als das Eis im Glas.
„Wenn Sie die Wette gewinnen,“ schlägt Dietmar seinerseits vor, „zeige ich Ihnen meine Werkstatt. Ich arbeite mit Holz, entwerfe Möbel oder restauriere sie.“
Er erläutert mehr dazu, und Evi beobachtet seine Hände. Sie sind beim Erzählen ständig in Bewegung und zeichnen die benannten Gegenstände förmlich in die Luft. Dabei vollführt er weiche, zärtlich wirkende Gesten und Evi empfindet die Liebe zu seiner Arbeit. Davon berührt trinkt sie ihre Eisschokolade und hängt ihren Fantasien nach, die der Tanz seiner Hände ausgelöst haben. Die Unterhaltung zwischen den beiden wird intensiver und sie findet Dietmar nicht mehr aufdringlich.
Es ist schade, dass niemand von den Erwarteten gekommen ist, bedauert Evi heimlich. Er schaut auf und lächelt sie an. Vermag er ihre Gedanken zu lesen?
„Keine Sorge,“ sagt er und grinst dabei spitzbübisch.
„Die Date-Partnerin wartet schon.“ Er schaut zum Nachbartisch, an dem eine einzelne Frau sitzt.
Evi folgt enttäuscht seinem Blick.
Die fremde Dame sieht aufreizend aus. Das beunruhigt Eveline. Ihre Stimmung ist schlagartig umgeschlagen, wie wenn man den Fernseher von einem Romantikfilm auf ein Melodrama umschaltet. Sie taxiert die Frau: Blond gefärbtes Haar, pinkfarbenes Kostüm. Schwarze Schuhe mit Absätzen wie Aussichtstürme. Geschminkt mit knallrotem Lippenstift. Sie wirkt gelangweilt, schaut auf die Uhr und sieht sich um. Evi findet, dass zu so einem vornehmen Outfit kein Rucksack passt. Doch dann stutzt sie. Erst jetzt bemerkt sie es. Sie wendet sich Dietmar zu.
„Sie hat aber nur eine Handtasche bei sich.“
Er zieht die Stirn in Falten.
„Sie ist die Falsche.“ Beide lachen wie auf Kommando los und er sagt glucksend: „Du hast einen Rucksack, das genügt mir. Sanft berührt er ihren Arm und ihre Augen treffen sich im Einverständnis.
?


Himmelbett
Monika Schubert

Die wilde Maienwiese
Sich preist als Sehnsuchtsort.
Sie lockt von Alltagsenge
In eine Gegenwelt hinfort.
Und bettet uns ins weiche
Geliebte Blumenmeer,
Refugium der Seele,
Bewacht vom grünen Lanzenheer.

Wenn über uns der Abend
Den Baldachin ausbreitet,
Der unsren Träumen Raum gibt
Vom hellen Sternenstaub begleitet.
Verwebt sich unser Lachen
Mit leisem Windgesang.
Die Hände sich verflechten
Wie zarte Ranken, ohne Drang.

Wo Eros einzieht in die Herzen
Und sie entflammt mit seiner Macht,
Benennen wir das Nest der Liebe:
Das Himmelbett der Sommernacht.
?

Der Liebhaber
Monika Schubert

In einem dunklen Kücheneck,
Ganz oben, nah der Decke,
Da lebt das Spinnenmännchen Zeck
Und rührt sich äußerst ungern weg,
Dass keiner ihn entdecke.

Der Spinnrich liebt Frau Dorothe,
Sie lockt mit Pheromonen.
Oft kocht sie sich den grünen Tee,
Und Zeck schaut ihr ins Dekolleté.
Er würde gern dort wohnen.

Beim Frühstück legt er stets erneut
auf‘s Brot ihr eine Fliege.
Zeck hofft, dass sein Geschenk sie freut,
er niemals den Entschluss bereut.
Vielleicht führt es zum Siege.

Des Nachts schläft er auf ihrer Wange,
Ein weiches Kissen, sehr apart.
Beim Träumen wünscht er sich schon lange,
und widerstand bisher dem Drange,
dass sie sich endlich mit ihm paart.

Doch irgendwann hängt ein Jackett
am Kleiderschrank, das ist infam.
Ein Bräutigam in ihrem Bett!
Er fängt Zeck, schmeißt ihn ins Klosett.
Als Zeck entkommt - quält ihn die Scham.

Doch stirbt er bald darauf vor Gram

?

Im Sturm
Ralph Ronneberger

„Und hier eine Unwetterwarnung für die Küstenregionen an Nord- und Ostsee. Es treten schwere Stürme mit Windstärke zehn aus nordwestlicher Richtung auf. Die Windgeschwindigkeiten können bis zu hundert Kilometer pro Stunde erreichen. Wir weisen darauf hin ...“

Lisa schaltete den Fernseher ab, streifte sich den dicken Pullover über und nahm ihren Friesennerz vom Garderobenhaken. Während sie sich in die wasserdichte Regenjacke zwängte, durchquerte sie bereits den Hotelflur. Der Diensthabende an der Rezeption staunte nicht schlecht, als er die junge Frau so vermummt und mit wetterfesten Schuhen zum Ausgang eilen sah. Bei diesem Sturm jagte man doch keinen Hund vor die Tür und so ein zierliches Persönchen schon gar nicht.
Lisa betrat keineswegs freiwillig die vom Sturm sprichwörtlich leer gefegte Straße. Die Lokal-Journalistin befand sich im Dienst und auf dem Weg zu einer Verabredung. Seit einigen Tagen arbeitete sie an einem Artikel über historische Leuchttürme entlang der deutschen Ostseeküste. Der, zu dem sie jetzt unterwegs war, wies seit mehr als hundert Jahren den Schiffen die sichere Einfahrt in den Hafen. Lisa war dort um 16.00 Uhr mit dem für die Wartung zuständigen Mitarbeiter des Wasser- und Schifffahrtsamtes verabredet. Da der Turm ferngesteuert arbeitete, wurde er lediglich nach einem festgelegten Rhythmus kontrolliert und gewartet.
„Sie haben Glück. Für morgen ist der Leuchtturm in meinem Tourenplan enthalten“, hatte der Mann am Telefon versichert und hinzugefügt, dass er punkt 16.00 Uhr vor Ort sei.
Obwohl die Straße, die zum Hafen führte, leicht bergab verlief, musste sich Lisa heftig gegen den Wind stemmen, um zügig voranzukommen. Als sie den Hafen erreichte, zögerte sie unwillkürlich.
Was für eine Schnapsidee, ging es ihr durch den Kopf, als sie die hohen Wellen gewahrte, die gegen die Mole anrannten, sich an ihr brachen und die Dammkrone mit einem Gemisch aus Wasser und Gischt überschütteten.
Entschlossen kramte sie in der Regenjacke nach dem Smartphone. Sie würde den Termin absagen beziehungsweise verschieben. Der Stichtag für die Vorlage ihres Artikels in der Redaktion war ohnehin nicht zu halten.
Auf ihren Anruf meldete sich nur die Sprachbox. Mit einem Seufzer versenkte sie das Gerät wieder in der Jackentasche. Unschlüssig schaute sie sich um. Keine Menschenseele zu sehen. Sie schien die Einzige zu sein, die dem Heulen dieses kalten Novembersturms zuhörte. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie zur Mole, an deren Ende sich die Silhouette des Leuchtturms vor dem düsteren Himmel abhob. Lächerliche dreihundert Meter mochten es bis dorthin sein. Das müsste locker zu schaffen sein. Und wenn sie sich dort nicht allzu lange aufhielt, würde sie vor dem Dunkelwerden zurück sein.
Da entdeckte sie eine Gestalt, die sich geduckt hinter der seeseitig angeordneten Brüstung nach vorn arbeitete. Offenbar trug er dunkles Ölzeug und hob sich daher kaum von den Granitsteinen der Mauer ab. Sollte das der Leuchtturmwärter sein? Na klar, wer würde sich bei diesem Sauwetter freiwillig diesen Unbilden aussetzen. Dafür musste es ein überzeugendes Motiv geben, und sie besaß ebenfalls eins. Sie brauchte noch diesen einen Turm, dann hatte sie alle benötigten Recherchen beieinander. Einem aufkommenden inneren Antrieb folgend, ging sie auf die Mole zu. Ihr Bestreben war es, den Mann vor ihr so rasch wie möglich einzuholen. Anfangs schien es, als würde ihr das gelingen. Bald trennten sie keine dreißig Schritte mehr, aber sie hatte sich total verausgabt. Der Sturm zwang sie in eine gebückte Haltung. Nur so vermochte sie den Windschatten der brusthohen Begrenzungsmauer auf der Seeseite zu nutzen. Und dann waren da noch die Wellen, die über diese Brüstung hinweg schwappten und Lisa jedes Mal in eine Gischtwolke hüllten. Einen Moment lang blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen. Sie gewahrte, wie der Mann, der den Leuchtturm fast erreicht hatte, sich umdrehte. Hatte er sie bemerkt? Um besser gesehen zu werden, richtete sie sich auf und trat in die Mitte der drei Meter breiten Krone der Mole. Dass dies ein Fehler war, erkannte sie sofort. Sie sah noch, wie der Mann mit den Armen gestikulierte, da wurde sie auch schon von einer gewaltigen Bö überrascht. Sie drohte das Gleichgewicht zu verlieren, tat einen Ausfallschritt, wurde trotzdem in Richtung Hafenbecken geschoben. Instinktiv ging sie auf die Knie, glaubte Halt auf dem holprigen Pflaster zu finden. In dem Moment brach sich eine mächtige Welle an der Brüstung und überschüttete die Krone mit ihren Sturzbächen. Das zum Hafenbecken ablaufende Wasser, riss Lisa einfach mit. Sie vermochte nicht einmal zu schreien, als sie das Unfassbare begriff. Zuerst war da ein Riesenschreck, der pures Entsetzen auslöste, als das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug. Dem folgten Sekunden der Lähmung. Erst als sie fühlte, wie sie immer weiter sank, kam die Panik – mit ihr aber auch der Selbsterhaltungstrieb. Der ließ Arme und Beine hektische Schwimmbewegungen ausführen, mit deren Hilfe das Absinken aufhörte und ein langsames Aufsteigen einsetzte. Zu langsam, um problemlos die Luft anzuhalten. In den Ohren rauschte es, der Mund öffnete sich – zum Glück genau in dem Moment, wo ihr Kopf auftauchte. Doch eine kleine harmlose Welle fand ihren Mund geöffnet. Einem unartikulierten Gurgeln folgte ein Hustenanfall. Instinktiv tat Lisa trotzdem alles, um den Kopf über Wasser zu halten und um sich zu blicken. Der Husten ließ nach und sie fühlte eine Erleichterung, als sie die Mauer der Mole nur wenige Meter vor sich sah. Mit aller Kraft schwamm sie darauf zu. Sie wusste, dass sie sich beeilen musste, denn es wurde für sie immer schwerer, sich über Wasser zu halten. Die vollgesogene Kleidung zerrte an ihr. Und jetzt kam auch noch die Kälte ins Spiel. Aber sie schaffte es. Die senkrechte Mauer bis hoch zur Krone ragte mindestens eineinhalb Meter in die Höhe. Davor waren Holzpfähle gerammt, die verhindern sollten, dass die anlegenden Schiffe gegen das Naturstein-Mauerwerk krachten. Diese doppelte Pfahlreihe bildete dicht über der Wasserlinie ein schmales Podest. Die Pfahlköpfe vermochte sie, mühelos zu erreichen. Doch sie waren glitschig und die vor Kälte schmerzenden Hände glitten immer wieder ab. Unmöglich sich aus dem eisigen Wasser zu ziehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es ihr, beide Unterarme auf die Pfahlreihe zu legen. Und nun? Nichts ging mehr. Bis zu den Schultern im Wasser, völlig ausgepumpt der Kälte ausgesetzt, so hing sie vor der Mauer und begriff, dass es für sie keine Rettung gab. Sie wollte schreien, ihre Todesangst herausbrüllen – es wurde nur ein Schluchzen, dass ihren ganzen Körper beben ließ.
„Fass zu! Los doch! Fass zu!“
Sie vernahm diesen Ruf trotz des Fauchens des Sturmes, dem Brüllen der tobenden See und dem schmerzhaften Dröhnen im Kopf. Vor ihren Augen pendelte etwas, das wie eine Lederschlaufe aussah. Was war das? Halluzinationen?
„Los doch! Greif endlich zu!“
Das kam von oben. Sie sah den Kopf eines Mannes, der sich über die Mauerkante geschoben hatte. In der Hand hielt er einen Rucksack, von dem ein Henkel greifbar nahe über ihr schwebte. Sie hob den rechten Arm, packte den Lederriemen und krampfte die klammen Finger zu einer Faust.
„Festhalten!“
An nichts anderes dachte sie. Von oben wurde gezogen. Ein kleines Stück kam sie aus dem Wasser, stemmte sich mit dem linken Arm auf die Pfähle. Mit letzter und fast übermenschlicher Kraft schaffte sie es, ein Bein aus dem Wasser zu bekommen, um sich damit auf das schmale Podest zu knien.
„Gut so! Jetzt langsam aufstehen.“
Sie wusste nicht wie, aber es gelang. Ständig rauschte Wasser von oben herab, aber sie stand ja so dicht an der Mauer, sodass es über sie hinweg schoss. Da fühlte sie sich von zwei Händen an der Jacke gepackt. „Los! Hilf mit! Gleich hast du‘s geschafft!“ Der Mann, der ihr das zurief, lag keuchend auf dem Bauch. Quälend langsam und nach mehreren Fehlversuchen, vermochte sie endlich den Oberkörper über die Mauerkante zu schieben. Sekunden später lag sie lang hingestreckt auf der Mole. Dort gab es die Sturzbäche, die sie mit Macht wieder zurück ins Hafenbecken spülen wollten.
Dass diese Gefahr bestand, registrierte sie noch, dann kam eine Phase, an die sie sich später nicht erinnern konnte. Sie wusste nicht, wie der Mann sie mit vor ihrer Brust gekreuzten Händen bis zum Leuchtturm schleifte. Sie ahnte nicht, dass die Überwindung der zum Eingang führenden Stufen, fast die Kräfte ihres Retters überforderte.
Ihr Wahrnehmungsvermögen setzte erst wieder ein, als sie sich auf einem Fußboden liegen sah. Das Heulen des Sturmes und das Tosen der Wellen drangen nur noch gedämpft an ihr Ohr. War es die überstandene Todesangst, war es das Bewusstsein, gerettet zu sein, war es die unerträgliche Kälte oder ein Konglomerat aus allem, das einen Weinkrampf in ihr auslöste.
„Bitte reiß dich zusammen! Du musst aus den nassen Klamotten heraus.“
Die Männerstimme kam von weit her, sie verstand sie kaum. Aber wer zerrte so fahrig an ihrer Jacke herum? War er das? Was will er mit der Jacke? Ich brauche sie doch. Nein! Nicht die Hose, ich friere doch so! Warum wehre ich mich nicht? Jetzt auch noch den Pullover. Nichts wärmt mich. Warum schreie ich nicht?!
Und wo kommt denn dieser Nebel auf einmal her? Er hüllt mich ein. Ich stürze! Hilfe! Nein, ich sinke nur, lande in einem Berg aus Watte. Hier ist es weich und still. Aber wer ächzt da so fürchterlich? Hallo?! Ich steige und falle. Wo ist denn die Watte hin? Und der Nebel?
„Ich hoffe, das wärmt dich auf.“
Da war wieder diese Stimme, aber diesmal ganz nah. Hatte sie geträumt? Oder träumte sie immer noch? Langsam kehrte ihre Wahrnehmungsfähigkeit zurück. Als sie es wagte, die Augen aufzuschlagen, schwebte ein Gesicht über ihr. Ein rundes Gesicht, von einem dunklen Vollbart umrahmt.
„Warte, ich bring dir einen heißen Tee“, kam es zwischen rissigen Lippen hervor. Sie blickte dem Mann nach, wie er zu einer winzigen Anrichte ging, um dort aus einem Wasserkocher zwei Tassen zu füllen. Warum läuft der Mann bei der Kälte in Boxershorts und Muskelshirt herum?
Lisa schaute sich weiter um. Sie befand sich in einem relativ kleinen Raum, dessen Einrichtung lediglich aus dieser Miniküche, einem Tisch und zwei Stühlen zu bestehen schien. Ja, und natürlich dieses Bett, auf dem sie lag. Jetzt erkannte sie auch, woher der muffige Geruch kam. Er entströmte der Wolldecke, unter der sie lag. Aber Lisa war froh, dass es sie gab. Ohne sie wäre ihr garantiert noch kälter. In einer Ecke, gleich neben dem Bett lag ein kleiner Berg nasser Kleidungsstücke. Ganz oben entdeckte sie einen BH. Sie zuckte zusammen. Ihr BH?! Und wie zur Bestätigung begann, der Pullover, den sie trug, auf ihren Brüsten zu kratzen. Den Rest vermochte sie sich zusammenzureimen. Der Mann, der mit dem Tee auf sie zukam, hatte sie ausgezogen und sie in seine eigenen Klamotten gesteckt. Wie konnte er nur ...? Die Erinnerung an die Szene, wo er sie mit letzter Kraft auf die Mole gezerrt hatte, drängte sich ihr auf. Doch sie wurde von dem Gefühl der Peinlichkeit verdrängt, mit dem sie dem Mann, der etwa in ihrem Alter sein mochte, entgegensah. Als er ihr die Tasse reichte, schlug sie sogar die Augen nieder.
„Wie geht es dir“, fragte er.
„Wo sind wir hier?“
„Im Leuchtturm. Es ist nicht gerade komfortabel, aber wir sind erst mal in Sicherheit. Liegst du bequem? Das Bett gehörte anno 1912 wahrscheinlich zur Erstausstattung, aber es ist breit und nicht allzu hart.“
„Mir ist kalt.“
„Mir auch.“ Mit diesen Worten umschlang er seinen Oberkörper. „Bei dem elektrischen Heizkörper funktioniert die höchste Stufe nicht. Es kann dauern, bis wir die Bude einigermaßen warm haben.“
„Hast du denn eine Ahnung, wann man uns hier rausholen wird?“
„Wer sollte das tun? Von uns weiß doch keiner. Mein Handy liegt samt Rucksack auf dem Grund vom Hafenbecken und deins hat auch einen längeren Tauchgang hinter sich.“ Er hatte sich auf die Bettkante gesetzt und führte mit zitternden Händen seine Tasse an den Mund.
„Ah, das tut gut.“ Das sollte wohl optimistisch klingen.
„Und wie lange ...? Ich meine ...“
„Morgen vormittags soll der Sturm abflauen. Wir können nur hoffen, dass bis dahin deine Sachen trocken sind. Ich werde sie über dem Heizkörper aufhängen.“
„Haben Sie denn nicht mal Funk hier? In den anderen Leuchttürmen, wo ich war, da ...“
„Auch deshalb bin ich ja hier. Die Fernsteuerung funktioniert nicht und der Funk ist auch ausgefallen. Ich nehme an, der Sturm hat die Antenne auf dem Gewissen. Aber da kann ich jetzt nicht ran. Da fegt es mich vom Dach.“
Er stand auf, brachte die Tassen zurück und begann anschließend, Lisas Kleidungsstücke aufzuhängen. Als sie sah, wie er mit spitzen Fingern ihren Slip auseinanderfaltete, musste sie unwillkürlich lachen. Er schien es nicht bemerkt zu haben. Stattdessen hörte sie ihn fluchen.
„Scheiß Kälte! Scheiß Heizung!“
Lisa sah, wie er zu ihr rüber schielte. Wahrscheinlich beneidete er sie um die dicke Wolldecke. Sie staunte, wie schnell der Entschluss in ihr reifte, der in den Worten mündete: „Komm her. Wir können uns gegenseitig wärmen.“
Seine Überraschung überzog nur ganz kurz sein Gesicht. Als er zu ihr unter die Decke kroch, spiegelte sich längst Dankbarkeit in seinen Zügen.
„Danke. Ich hätte nie gedacht, dass du ...“
„Ich hätte auch nie gedacht, dass du mir das Leben rettest.“
„Das ist doch etwas ganz anderes.“
„Kann sein, aber jetzt retten wir uns gegenseitig vor dem Erfrieren.“
Sie rückten dich aneinander. Dabei schob er ihr einen Arm unter den Nacken.
„Ist das so okay?“
„Ja.“
Eine Weile lagen sie still. Lisa bemerkte, wie sich die Kälte langsam aus ihrem Körper schlich.
„Jetzt wird mir warm“, sagte sie mehr zu sich selbst.
„Mir auch. Die Wärme entspringt unserer Gemeinsamkeit. Vielleicht brauchen wir die Heizung gar nicht mehr.“
„Warum?“
„So eng beieinander, eine ganze Nacht, da wird aus der Wärme vielleicht sogar Hitze.“
Diese Worte hätten im Normalfall anzüglich geklungen. Sie wusste selbst nicht, warum sie in sein leises Lachen einfiel. Lag es daran, dass die Panik-Dämonen den Rückzug angetreten hatten? Mit seinem starken Arm im Nacken fühlte sie sich sicher. Und er beschützte sie nicht nur. Er vermittelte ihr eine Geborgenheit, die sie in dieser Intensität bei noch niemanden erfahren hatte. Lag das nur an dieser außergewöhnlichen Situation?
Seine Hand strich ihr über die Schulter, die Finger verfielen nach und nach in ein sanftes Streicheln, das sich schon bald auf Teile ihres Rückens auszudehnen begann. Zum ersten Mal nach all der überstandenen Todesangst und der lähmenden Kälte begann sie sich wohlzufühlen.
Wäre ich eine Katze, würde ich jetzt zu schnurren beginnen, kam es ihr in den Sinn und ließ sie schmunzeln. Und dann sagte sie etwas, wovon sie nicht wusste, warum es ihr über die Lippen kam. Der kleine Satz war automatisch und fast unbemerkt in ihr hochgestiegen und machte sich nun flüsternd selbstständig. „Du tust mir gut.“ Fast hätte sie sich vor Schreck auf den Mund geschlagen.
„So wie du mir“, sagte er und lachte wieder sein leises Lachen. „Da haben wir schon wieder etwas gemeinsam.“
Sie fühlte sich dichter an ihn herangezogen. Würde er versuchen, sich noch weiter zu nähern? Sie wusste, damit würde er alles zerstören, die Ruhe, die in ihr Herz einzuziehen begann, die Dankbarkeit, die sie für diesen Mann empfand und die Sympathie, die sie ihm im zunehmenden Maße entgegenbrachte. Nervös achtete sie auf jede seiner Bewegungen. Noch deutete nichts darauf hin, womit er signalisiert hätte, über das Streicheln ihres Rückens hinaus gehen zu wollen.
Mal sehen, wie er reagiert, dachte sie. Und laut: „Sag mal, hast du denn keine Partnerin, die sich jetzt Sorgen um dich macht?“
Die auf ihrer Haut tanzenden Fingerkuppen kamen abrupt zur Ruhe. Lisa fühlte, wie es in ihm zu arbeiten begann. Würde er sie jetzt anlügen?
Und da war es schon, dieses klare „Nein“, das er regelrecht in den Raum schleuderte. Schade, ihre Erwartung war eingetreten. Wie eine Lüge hatte das zwar nicht geklungen, aber glauben mochte sie ihm trotzdem nicht. Sie wusste, jetzt war sie am Zuge, um die Fronten zu klären. Sie führte ihren Mund dicht an sein Ohr, und es klang beinahe schuldbewusst, als sie nur zwei Worte flüsterte. „Ich habe eine Partnerin.“
Er schien dies zu ihrem Erstaunen ungerührt zur Kenntnis zu nehmen. Das Streicheln setzte wieder ein.
„Ich hätte mich auch gewundert, wenn eine so schöne Frau wie du solo durch ihr Leben stolpern müsste.“
Komisch. Wie gelassen er das nimmt. Da schwingen weder Resignation oder Enttäuschung in seiner Stimme. Oder hat er sie nicht ganz verstanden?
„Ich hatte dich nach einer Partnerin gefragt. Das hast du verneint, aber ich habe es bejaht“, sagte sie mit Nachdruck.
Er zuckte kurz mit den Schultern, stutzte dann und schien zu begreifen. Zu ihrer Verwunderung zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht.
„Da haben wir ja wieder etwas Gemeinsames. Ich überlege schon geraume Zeit, wie ich meinem Mann verklickern soll, dass ich mit einer wahnsinnig attraktiven Frau eine ganze Nacht im gleichen Bett gelegen habe.“
Das einsetzende Gelächter hatte für beide etwas Befreiendes.
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Ein Hauch von dir
Monika Schubert

Ich bin hellwach in dieser lauen Nacht,
noch warm von dir, von deinem Duft umgeben.
Und denk an deiner Fingerspitzen Macht
Auf meiner Haut, ein prickelndes Erleben.

Auf meinem Mund sitzt noch ein Kuss von dir,
Der zärtlich war und mir die Sinne raubte.
Er ist für mich des Glückes Elixier,
von dem ich mich sofort erobert glaubte.

Nun liege ich in dem zerwühlten Bett,
Allein, es darf statt dir mich sanft umarmen.
An meinem Hals spür ich dein Amulett,
Beschwert von Sehnsucht, die kennt kein Erbarmen.

Nur mir zeigt sich im Dunkeln dein Gesicht.
Der Stille Echo tönt – ich liebe dich –
Ein Strumpf, den du vergessen hast, verspricht:
Du kommst zurück und darauf freu ich mich.

Kennwort Rucksack
Monika Schubert

Uff, endlich sitzen. Runter mit dem Rucksack. Evi wirft ihn auf den freien Stuhl neben sich. Hier ist es gemütlich. Und Schatten. In diesem Kaffee ist es schwer, einen Tisch zu ergattern. Nachdem sie einen großen Cappuccino bestellt hat, lehnt sie sich entspannt zurück und schließt die Augen. „Mit fünfundsechzig brauche ich mal eine Pause“, ächzt sie.
„Kennwort Rucksack?“ Zwei Worte, die das Gemurmel der anderen Gäste übertönen. Sie reißen Evi aus dem Nichtsdenken. Widerwillig hebt sie einen Spalt weit die Augenlider. Ein kariertes Hemd ragt über den Tisch, knittrig wie gealterte Haut. Die hellblauen Kästchen auf weißem Grund sind verblichen. Ihr Blick wandert höher, bleibt am Gesicht eines Mannes hängen. Im Schatten der Markise wirkt es wie eine verblasste Fotografie. Zwei dunkle Augen sind forschend auf sie gerichtet. Evi betrachtet ihn verunsichert. Kenne ich den? Ist das der Fred, der auf meiner Vernissage ein Bild gekauft hat? Ach nö, dessen Haare waren nicht so grau.
Der Mann wendet sich ab und kramt in einer Einkaufstüte. Diese knistert, es klingt wie ein Schwatzen, ehe sie einen Blumenstrauß frei gibt.
„Für Sie“, sagt der Fremde.
Evi fragt sich, was das bedeutet. Hofft er, dass sie ihm die gelben Rosen abkauft?
Er führt den Strauß näher, bis knapp unter ihre Nase. Die Blüten duften.
Ein Geschenk? Warum? Mit zögernder Bewegung nimmt sie die Blumen.
„Fassen Sie nur zu, sie sind nicht zerbrechlich.“
Doch sie hat das Gefühl, damit ein Zugeständnis zu gewähren. Prompt legt sie das Präsent auf den Tisch. Sie überlegt, immer noch, ob sie den Mann kennt.
Für ihn scheint dagegen alles klar zu sein. Er streicht seine Haare glatt und setzt sich auf den freien Stuhl ihr gegenüber.
„Das Kennwort ist ‚Rucksack‘, so haben wir es ausgemacht“, erklärt er mit Nachdruck in der Stimme.
„Und wo ist Ihr Rucksack?“, interessiert Evi.
„Vom Alter her passt es“, stellt er fest, ohne auf ihre Frage einzugehen.
Sie ist irritiert.
Ist das so‘n blöder Anmachtrick oder eine Verwechslung, rätselt Eveline.
Doch ehe sie Klarheit erlangt, bemerkt er: „Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.“
„Ich bin nicht gekommen. Äh, hier liegt eine Verwechslung vor“, protestiert sie.
„Aber es passt doch, der Rucksack, das Alter“, stellt er fest und sein Tonfall lässt vermuten, dass er versucht, sich selbst zu überzeugen.
Der gibt nicht auf. Wie werde ich ihn wieder los? Evi zwingt sich zu einem: „Es ist Zeit, nach Hause zu fahren.“
Der Mann ihr gegenüber lacht auf, denn in diesem Moment bringt die Kellnerin den Kaffee.
„Na, den werden Sie doch trinken. Außerdem glaube ich, Sie warten auf jemanden.“
„Wie kommen Sie darauf?“ Sie sieht ihn fragend an.
„Ich sah Sie vorhin wie ein Erdmännchen die Straße absuchen.“
Evi reagiert nicht, denn ihr fährt ein Gedanke durch den Kopf, eine Art Rettungsplan. Den Blick auf ihre Hände gerichtet, erklärt sie: „Mein Freund, der wird gleich kommen. Und Sie warten doch auf Ihre Verabredung.“
Der Mann zieht seine Augenbrauen zusammen und scheint nachzudenken. Evi empfindet etwas Mitleid mit ihm, wie er so zusammengesackt mit hängenden Schultern vor ihr sitzt. Um sich zu sammeln, fährt er mit der rechten Hand über sein Gesicht. Dabei hellt sich seine Mine auf.
„Wir könnten gemeinsam warten“, schlägt er vor und meint sicher damit, auf seine Verabredung und ihren Freund. Um seinem Vorschlag eine gewisse Entschlossenheit zu verleihen, sucht er Blickkontakt zu ihr.
Überrascht von seiner Gemütswandlung strafft Evi ihren Rücken, konzentriert sich auf ihr Gegenüber. Dann stellt sie ihren Rucksack griffbereit auf ihren Schoß. Sein Blick wandert hinterher.
„Hat Ihr Freund ihnen den geschenkt?“
„Nein, ich habe ihn nur wegen dem Kennwort bei mir,“ meint sie spöttisch, Beide lachen.
Sie sieht auf die Uhr. „Es wird Zeit, dass ich bald aufbreche.“
„Gut. Wie lange können Sie bleiben? Eine Stunde?“
„Höchstens dreißig Minuten.“ Evi kaut auf ihrer Unterlippe herum und fixiert ihre Kaffeetasse. Sie erinnert sich daran, dass sie vorhatte, nur in Ruhe einen Kaffee zu trinken.
„Okay, das reicht“, sagt er nach kurzem Zögern.
„Wie meinen Sie das?“
„Ich schlage Ihnen eine Wette vor.“
„Was bedeutet das?“
„Wessen Partner zuerst da ist, gewinnt“, erklärt er und wirkt amüsiert.
„Und worum wetten wir?“
„Um einen Tag.“
Sie überlegt und er beantwortet ihre nicht gestellte Frage. „Wenn meine erwartete Partnerin zuerst da ist, schenken Sie mir einen Tag oder umgekehrt.“
„Einen Tag verschenken?“, fragt sie, obwohl sie ahnt, was er meint.
„Sie schlagen mir einen gemeinsamen Ausflug vor, wenn ich gewinne.“
„Häh!“ Ungewollt prustet sie in ihre Kaffeetasse. Spinnt der? Ich ziehe doch nicht mit einem Wildfremden durch die Gegend.
„Wenn keine von den erwarteten Personen kommt, fällt der Geschenktag aus“, setzt er hinzu.
Das beruhigt Evi, denn sie vermutet, dass niemand kommen wird. Alles spricht dafür, dass ihn seine Date-Partnerin versetzt, und ihr Freund ist ohnehin erfunden.
Zur Überbrückung der angedachten halben Stunde bestellt Evi sich eine Eisschokolade und er entscheidet sich für das Gleiche. Sie warten auf das Eis und jeder hängt seinen Gedanken nach. Evi zeichnet dabei mit dem Finger die Muster der farbenfrohen Tischdecke nach.
„Ich bin übrigens Dietmar, aber meine Freunde nennen mich Didi,“ stellt er sich vor. Er zieht seine rechte Augenbraue hoch und deutet ein Nicken an, welches wie eine stille Aufforderung wirkt.
Didi, wie albern, findet sie, bevor sie sich aufrafft, ihren Namen zu nennen.
„Eveline“, sagt sie, ohne vom Muster der Tischdecke aufzusehen.
„Sie malen gern?“, vermutet Dietmar.
„Oh, ja“, rutscht es ihr heraus. Ihre Augen leuchten für einen Moment auf. Kurz treffen sich ihre Blicke, doch Evi senkt gleich wieder den Kopf.
„Welche Motive malen Sie am liebsten?“
Er ist froh, ein Gesprächsthema gefunden zu haben, argwöhnt sie. Darum antwortet sie schroff: „Porträts“, und forscht in seinem Gesicht nach Anzeichen für ehrliches Interesse.
„Ist es schwierig, ein Konterfei mit Ausdruck und Emotionen darzustellen?“ Kurz hält er inne und wartet, bis die Kellnerin die Eisgetränke serviert hat.
„Gehört dazu Fantasie?“
„Nein. Das reine Treffen der Ähnlichkeit ist vor allem eine Frage der Übung. Das Einbetten in einen Kontext hingegen verlangt Kreativität und Ideenfindung.“
„Ich würde Ihre Bilder gern sehen.“ Er scheint es ernst zu meinen.
„Wenn Sie gewinnen, besuchen wir gemeinsam die Ausstellung, die ich kürzlich eröffnet habe“, lässt sich Evi zu dem Vorschlag hinreißen. Ihr strahlender Blick verrät eine geheime Freude.
„Ich finde es ganz reizvoll, wie Sie mit den Augen lächeln“, schmeichelt er.
Das Eis zwischen ihnen scheint schneller zu schmelzen als das Eis im Glas.
„Wenn Sie die Wette gewinnen,“ schlägt Dietmar seinerseits vor, „zeige ich Ihnen meine Werkstatt. Ich arbeite mit Holz, entwerfe Möbel oder restauriere sie.“
Er erläutert mehr dazu, und Evi beobachtet seine Hände. Sie sind beim Erzählen ständig in Bewegung und zeichnen die benannten Gegenstände förmlich in die Luft. Dabei vollführt er weiche, zärtlich wirkende Gesten und Evi empfindet die Liebe zu seiner Arbeit. Davon berührt trinkt sie ihre Eisschokolade und hängt ihren Fantasien nach, die der Tanz seiner Hände ausgelöst haben. Die Unterhaltung zwischen den beiden wird intensiver und sie findet Dietmar nicht mehr aufdringlich.
Es ist schade, dass niemand von den Erwarteten gekommen ist, bedauert Evi heimlich. Er schaut auf und lächelt sie an. Vermag er ihre Gedanken zu lesen?
„Keine Sorge,“ sagt er und grinst dabei spitzbübisch.
„Die Date-Partnerin wartet schon.“ Er schaut zum Nachbartisch, an dem eine einzelne Frau sitzt.
Evi folgt enttäuscht seinem Blick.
Die fremde Dame sieht aufreizend aus. Das beunruhigt Eveline. Ihre Stimmung ist schlagartig umgeschlagen, wie wenn man den Fernseher von einem Romantikfilm auf ein Melodrama umschaltet. Sie taxiert die Frau: Blond gefärbtes Haar, pinkfarbenes Kostüm. Schwarze Schuhe mit Absätzen wie Aussichtstürme. Geschminkt mit knallrotem Lippenstift. Sie wirkt gelangweilt, schaut auf die Uhr und sieht sich um. Evi findet, dass zu so einem vornehmen Outfit kein Rucksack passt. Doch dann stutzt sie. Erst jetzt bemerkt sie es. Sie wendet sich Dietmar zu.
„Sie hat aber nur eine Handtasche bei sich.“
Er zieht die Stirn in Falten.
„Sie ist die Falsche.“ Beide lachen wie auf Kommando los und er sagt glucksend: „Du hast einen Rucksack, das genügt mir. Sanft berührt er ihren Arm und ihre Augen treffen sich im Einverständnis.
?

Himmelbett
Monika Schubert

Die wilde Maienwiese
Sich preist als Sehnsuchtsort.
Sie lockt von Alltagsenge
In eine Gegenwelt hinfort.
Und bettet uns ins weiche
Geliebte Blumenmeer,
Refugium der Seele,
Bewacht vom grünen Lanzenheer.

Wenn über uns der Abend
Den Baldachin ausbreitet,
Der unsren Träumen Raum gibt
Vom hellen Sternenstaub begleitet.
Verwebt sich unser Lachen
Mit leisem Windgesang.
Die Hände sich verflechten
Wie zarte Ranken, ohne Drang.

Wo Eros einzieht in die Herzen
Und sie entflammt mit seiner Macht,
Benennen wir das Nest der Liebe:
Das Himmelbett der Sommernacht.
?

Der Liebhaber
Monika Schubert

In einem dunklen Kücheneck,
Ganz oben, nah der Decke,
Da lebt das Spinnenmännchen Zeck
Und rührt sich äußerst ungern weg,
Dass keiner ihn entdecke.

Der Spinnrich liebt Frau Dorothe,
Sie lockt mit Pheromonen.
Oft kocht sie sich den grünen Tee,
Und Zeck schaut ihr ins Dekolleté.
Er würde gern dort wohnen.

Beim Frühstück legt er stets erneut
auf‘s Brot ihr eine Fliege.
Zeck hofft, dass sein Geschenk sie freut,
er niemals den Entschluss bereut.
Vielleicht führt es zum Siege.

Des Nachts schläft er auf ihrer Wange,
Ein weiches Kissen, sehr apart.
Beim Träumen wünscht er sich schon lange,
und widerstand bisher dem Drange,
dass sie sich endlich mit ihm paart.

Doch irgendwann hängt ein Jackett
am Kleiderschrank, das ist infam.
Ein Bräutigam in ihrem Bett!
Er fängt Zeck, schmeißt ihn ins Klosett.
Als Zeck entkommt - quält ihn die Scham.

Doch stirbt er bald darauf vor Gram

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Im Sturm
Ralph Ronneberger

„Und hier eine Unwetterwarnung für die Küstenregionen an Nord- und Ostsee. Es treten schwere Stürme mit Windstärke zehn aus nordwestlicher Richtung auf. Die Windgeschwindigkeiten können bis zu hundert Kilometer pro Stunde erreichen. Wir weisen darauf hin ...“

Lisa schaltete den Fernseher ab, streifte sich den dicken Pullover über und nahm ihren Friesennerz vom Garderobenhaken. Während sie sich in die wasserdichte Regenjacke zwängte, durchquerte sie bereits den Hotelflur. Der Diensthabende an der Rezeption staunte nicht schlecht, als er die junge Frau so vermummt und mit wetterfesten Schuhen zum Ausgang eilen sah. Bei diesem Sturm jagte man doch keinen Hund vor die Tür und so ein zierliches Persönchen schon gar nicht.
Lisa betrat keineswegs freiwillig die vom Sturm sprichwörtlich leer gefegte Straße. Die Lokal-Journalistin befand sich im Dienst und auf dem Weg zu einer Verabredung. Seit einigen Tagen arbeitete sie an einem Artikel über historische Leuchttürme entlang der deutschen Ostseeküste. Der, zu dem sie jetzt unterwegs war, wies seit mehr als hundert Jahren den Schiffen die sichere Einfahrt in den Hafen. Lisa war dort um 16.00 Uhr mit dem für die Wartung zuständigen Mitarbeiter des Wasser- und Schifffahrtsamtes verabredet. Da der Turm ferngesteuert arbeitete, wurde er lediglich nach einem festgelegten Rhythmus kontrolliert und gewartet.
„Sie haben Glück. Für morgen ist der Leuchtturm in meinem Tourenplan enthalten“, hatte der Mann am Telefon versichert und hinzugefügt, dass er punkt 16.00 Uhr vor Ort sei.
Obwohl die Straße, die zum Hafen führte, leicht bergab verlief, musste sich Lisa heftig gegen den Wind stemmen, um zügig voranzukommen. Als sie den Hafen erreichte, zögerte sie unwillkürlich.
Was für eine Schnapsidee, ging es ihr durch den Kopf, als sie die hohen Wellen gewahrte, die gegen die Mole anrannten, sich an ihr brachen und die Dammkrone mit einem Gemisch aus Wasser und Gischt überschütteten.
Entschlossen kramte sie in der Regenjacke nach dem Smartphone. Sie würde den Termin absagen beziehungsweise verschieben. Der Stichtag für die Vorlage ihres Artikels in der Redaktion war ohnehin nicht zu halten.
Auf ihren Anruf meldete sich nur die Sprachbox. Mit einem Seufzer versenkte sie das Gerät wieder in der Jackentasche. Unschlüssig schaute sie sich um. Keine Menschenseele zu sehen. Sie schien die Einzige zu sein, die dem Heulen dieses kalten Novembersturms zuhörte. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie zur Mole, an deren Ende sich die Silhouette des Leuchtturms vor dem düsteren Himmel abhob. Lächerliche dreihundert Meter mochten es bis dorthin sein. Das müsste locker zu schaffen sein. Und wenn sie sich dort nicht allzu lange aufhielt, würde sie vor dem Dunkelwerden zurück sein.
Da entdeckte sie eine Gestalt, die sich geduckt hinter der seeseitig angeordneten Brüstung nach vorn arbeitete. Offenbar trug er dunkles Ölzeug und hob sich daher kaum von den Granitsteinen der Mauer ab. Sollte das der Leuchtturmwärter sein? Na klar, wer würde sich bei diesem Sauwetter freiwillig diesen Unbilden aussetzen. Dafür musste es ein überzeugendes Motiv geben, und sie besaß ebenfalls eins. Sie brauchte noch diesen einen Turm, dann hatte sie alle benötigten Recherchen beieinander. Einem aufkommenden inneren Antrieb folgend, ging sie auf die Mole zu. Ihr Bestreben war es, den Mann vor ihr so rasch wie möglich einzuholen. Anfangs schien es, als würde ihr das gelingen. Bald trennten sie keine dreißig Schritte mehr, aber sie hatte sich total verausgabt. Der Sturm zwang sie in eine gebückte Haltung. Nur so vermochte sie den Windschatten der brusthohen Begrenzungsmauer auf der Seeseite zu nutzen. Und dann waren da noch die Wellen, die über diese Brüstung hinweg schwappten und Lisa jedes Mal in eine Gischtwolke hüllten. Einen Moment lang blieb sie stehen, um Atem zu schöpfen. Sie gewahrte, wie der Mann, der den Leuchtturm fast erreicht hatte, sich umdrehte. Hatte er sie bemerkt? Um besser gesehen zu werden, richtete sie sich auf und trat in die Mitte der drei Meter breiten Krone der Mole. Dass dies ein Fehler war, erkannte sie sofort. Sie sah noch, wie der Mann mit den Armen gestikulierte, da wurde sie auch schon von einer gewaltigen Bö überrascht. Sie drohte das Gleichgewicht zu verlieren, tat einen Ausfallschritt, wurde trotzdem in Richtung Hafenbecken geschoben. Instinktiv ging sie auf die Knie, glaubte Halt auf dem holprigen Pflaster zu finden. In dem Moment brach sich eine mächtige Welle an der Brüstung und überschüttete die Krone mit ihren Sturzbächen. Das zum Hafenbecken ablaufende Wasser, riss Lisa einfach mit. Sie vermochte nicht einmal zu schreien, als sie das Unfassbare begriff. Zuerst war da ein Riesenschreck, der pures Entsetzen auslöste, als das Wasser über ihrem Kopf zusammenschlug. Dem folgten Sekunden der Lähmung. Erst als sie fühlte, wie sie immer weiter sank, kam die Panik – mit ihr aber auch der Selbsterhaltungstrieb. Der ließ Arme und Beine hektische Schwimmbewegungen ausführen, mit deren Hilfe das Absinken aufhörte und ein langsames Aufsteigen einsetzte. Zu langsam, um problemlos die Luft anzuhalten. In den Ohren rauschte es, der Mund öffnete sich – zum Glück genau in dem Moment, wo ihr Kopf auftauchte. Doch eine kleine harmlose Welle fand ihren Mund geöffnet. Einem unartikulierten Gurgeln folgte ein Hustenanfall. Instinktiv tat Lisa trotzdem alles, um den Kopf über Wasser zu halten und um sich zu blicken. Der Husten ließ nach und sie fühlte eine Erleichterung, als sie die Mauer der Mole nur wenige Meter vor sich sah. Mit aller Kraft schwamm sie darauf zu. Sie wusste, dass sie sich beeilen musste, denn es wurde für sie immer schwerer, sich über Wasser zu halten. Die vollgesogene Kleidung zerrte an ihr. Und jetzt kam auch noch die Kälte ins Spiel. Aber sie schaffte es. Die senkrechte Mauer bis hoch zur Krone ragte mindestens eineinhalb Meter in die Höhe. Davor waren Holzpfähle gerammt, die verhindern sollten, dass die anlegenden Schiffe gegen das Naturstein-Mauerwerk krachten. Diese doppelte Pfahlreihe bildete dicht über der Wasserlinie ein schmales Podest. Die Pfahlköpfe vermochte sie, mühelos zu erreichen. Doch sie waren glitschig und die vor Kälte schmerzenden Hände glitten immer wieder ab. Unmöglich sich aus dem eisigen Wasser zu ziehen. Nach einer gefühlten Ewigkeit gelang es ihr, beide Unterarme auf die Pfahlreihe zu legen. Und nun? Nichts ging mehr. Bis zu den Schultern im Wasser, völlig ausgepumpt der Kälte ausgesetzt, so hing sie vor der Mauer und begriff, dass es für sie keine Rettung gab. Sie wollte schreien, ihre Todesangst herausbrüllen – es wurde nur ein Schluchzen, dass ihren ganzen Körper beben ließ.
„Fass zu! Los doch! Fass zu!“
Sie vernahm diesen Ruf trotz des Fauchens des Sturmes, dem Brüllen der tobenden See und dem schmerzhaften Dröhnen im Kopf. Vor ihren Augen pendelte etwas, das wie eine Lederschlaufe aussah. Was war das? Halluzinationen?
„Los doch! Greif endlich zu!“
Das kam von oben. Sie sah den Kopf eines Mannes, der sich über die Mauerkante geschoben hatte. In der Hand hielt er einen Rucksack, von dem ein Henkel greifbar nahe über ihr schwebte. Sie hob den rechten Arm, packte den Lederriemen und krampfte die klammen Finger zu einer Faust.
„Festhalten!“
An nichts anderes dachte sie. Von oben wurde gezogen. Ein kleines Stück kam sie aus dem Wasser, stemmte sich mit dem linken Arm auf die Pfähle. Mit letzter und fast übermenschlicher Kraft schaffte sie es, ein Bein aus dem Wasser zu bekommen, um sich damit auf das schmale Podest zu knien.
„Gut so! Jetzt langsam aufstehen.“
Sie wusste nicht wie, aber es gelang. Ständig rauschte Wasser von oben herab, aber sie stand ja so dicht an der Mauer, sodass es über sie hinweg schoss. Da fühlte sie sich von zwei Händen an der Jacke gepackt. „Los! Hilf mit! Gleich hast du‘s geschafft!“ Der Mann, der ihr das zurief, lag keuchend auf dem Bauch. Quälend langsam und nach mehreren Fehlversuchen, vermochte sie endlich den Oberkörper über die Mauerkante zu schieben. Sekunden später lag sie lang hingestreckt auf der Mole. Dort gab es die Sturzbäche, die sie mit Macht wieder zurück ins Hafenbecken spülen wollten.
Dass diese Gefahr bestand, registrierte sie noch, dann kam eine Phase, an die sie sich später nicht erinnern konnte. Sie wusste nicht, wie der Mann sie mit vor ihrer Brust gekreuzten Händen bis zum Leuchtturm schleifte. Sie ahnte nicht, dass die Überwindung der zum Eingang führenden Stufen, fast die Kräfte ihres Retters überforderte.
Ihr Wahrnehmungsvermögen setzte erst wieder ein, als sie sich auf einem Fußboden liegen sah. Das Heulen des Sturmes und das Tosen der Wellen drangen nur noch gedämpft an ihr Ohr. War es die überstandene Todesangst, war es das Bewusstsein, gerettet zu sein, war es die unerträgliche Kälte oder ein Konglomerat aus allem, das einen Weinkrampf in ihr auslöste.
„Bitte reiß dich zusammen! Du musst aus den nassen Klamotten heraus.“
Die Männerstimme kam von weit her, sie verstand sie kaum. Aber wer zerrte so fahrig an ihrer Jacke herum? War er das? Was will er mit der Jacke? Ich brauche sie doch. Nein! Nicht die Hose, ich friere doch so! Warum wehre ich mich nicht? Jetzt auch noch den Pullover. Nichts wärmt mich. Warum schreie ich nicht?!
Und wo kommt denn dieser Nebel auf einmal her? Er hüllt mich ein. Ich stürze! Hilfe! Nein, ich sinke nur, lande in einem Berg aus Watte. Hier ist es weich und still. Aber wer ächzt da so fürchterlich? Hallo?! Ich steige und falle. Wo ist denn die Watte hin? Und der Nebel?
„Ich hoffe, das wärmt dich auf.“
Da war wieder diese Stimme, aber diesmal ganz nah. Hatte sie geträumt? Oder träumte sie immer noch? Langsam kehrte ihre Wahrnehmungsfähigkeit zurück. Als sie es wagte, die Augen aufzuschlagen, schwebte ein Gesicht über ihr. Ein rundes Gesicht, von einem dunklen Vollbart umrahmt.
„Warte, ich bring dir einen heißen Tee“, kam es zwischen rissigen Lippen hervor. Sie blickte dem Mann nach, wie er zu einer winzigen Anrichte ging, um dort aus einem Wasserkocher zwei Tassen zu füllen. Warum läuft der Mann bei der Kälte in Boxershorts und Muskelshirt herum?
Lisa schaute sich weiter um. Sie befand sich in einem relativ kleinen Raum, dessen Einrichtung lediglich aus dieser Miniküche, einem Tisch und zwei Stühlen zu bestehen schien. Ja, und natürlich dieses Bett, auf dem sie lag. Jetzt erkannte sie auch, woher der muffige Geruch kam. Er entströmte der Wolldecke, unter der sie lag. Aber Lisa war froh, dass es sie gab. Ohne sie wäre ihr garantiert noch kälter. In einer Ecke, gleich neben dem Bett lag ein kleiner Berg nasser Kleidungsstücke. Ganz oben entdeckte sie einen BH. Sie zuckte zusammen. Ihr BH?! Und wie zur Bestätigung begann, der Pullover, den sie trug, auf ihren Brüsten zu kratzen. Den Rest vermochte sie sich zusammenzureimen. Der Mann, der mit dem Tee auf sie zukam, hatte sie ausgezogen und sie in seine eigenen Klamotten gesteckt. Wie konnte er nur ...? Die Erinnerung an die Szene, wo er sie mit letzter Kraft auf die Mole gezerrt hatte, drängte sich ihr auf. Doch sie wurde von dem Gefühl der Peinlichkeit verdrängt, mit dem sie dem Mann, der etwa in ihrem Alter sein mochte, entgegensah. Als er ihr die Tasse reichte, schlug sie sogar die Augen nieder.
„Wie geht es dir“, fragte er.
„Wo sind wir hier?“
„Im Leuchtturm. Es ist nicht gerade komfortabel, aber wir sind erst mal in Sicherheit. Liegst du bequem? Das Bett gehörte anno 1912 wahrscheinlich zur Erstausstattung, aber es ist breit und nicht allzu hart.“
„Mir ist kalt.“
„Mir auch.“ Mit diesen Worten umschlang er seinen Oberkörper. „Bei dem elektrischen Heizkörper funktioniert die höchste Stufe nicht. Es kann dauern, bis wir die Bude einigermaßen warm haben.“
„Hast du denn eine Ahnung, wann man uns hier rausholen wird?“
„Wer sollte das tun? Von uns weiß doch keiner. Mein Handy liegt samt Rucksack auf dem Grund vom Hafenbecken und deins hat auch einen längeren Tauchgang hinter sich.“ Er hatte sich auf die Bettkante gesetzt und führte mit zitternden Händen seine Tasse an den Mund.
„Ah, das tut gut.“ Das sollte wohl optimistisch klingen.
„Und wie lange ...? Ich meine ...“
„Morgen vormittags soll der Sturm abflauen. Wir können nur hoffen, dass bis dahin deine Sachen trocken sind. Ich werde sie über dem Heizkörper aufhängen.“
„Haben Sie denn nicht mal Funk hier? In den anderen Leuchttürmen, wo ich war, da ...“
„Auch deshalb bin ich ja hier. Die Fernsteuerung funktioniert nicht und der Funk ist auch ausgefallen. Ich nehme an, der Sturm hat die Antenne auf dem Gewissen. Aber da kann ich jetzt nicht ran. Da fegt es mich vom Dach.“
Er stand auf, brachte die Tassen zurück und begann anschließend, Lisas Kleidungsstücke aufzuhängen. Als sie sah, wie er mit spitzen Fingern ihren Slip auseinanderfaltete, musste sie unwillkürlich lachen. Er schien es nicht bemerkt zu haben. Stattdessen hörte sie ihn fluchen.
„Scheiß Kälte! Scheiß Heizung!“
Lisa sah, wie er zu ihr rüber schielte. Wahrscheinlich beneidete er sie um die dicke Wolldecke. Sie staunte, wie schnell der Entschluss in ihr reifte, der in den Worten mündete: „Komm her. Wir können uns gegenseitig wärmen.“
Seine Überraschung überzog nur ganz kurz sein Gesicht. Als er zu ihr unter die Decke kroch, spiegelte sich längst Dankbarkeit in seinen Zügen.
„Danke. Ich hätte nie gedacht, dass du ...“
„Ich hätte auch nie gedacht, dass du mir das Leben rettest.“
„Das ist doch etwas ganz anderes.“
„Kann sein, aber jetzt retten wir uns gegenseitig vor dem Erfrieren.“
Sie rückten dich aneinander. Dabei schob er ihr einen Arm unter den Nacken.
„Ist das so okay?“
„Ja.“
Eine Weile lagen sie still. Lisa bemerkte, wie sich die Kälte langsam aus ihrem Körper schlich.
„Jetzt wird mir warm“, sagte sie mehr zu sich selbst.
„Mir auch. Die Wärme entspringt unserer Gemeinsamkeit. Vielleicht brauchen wir die Heizung gar nicht mehr.“
„Warum?“
„So eng beieinander, eine ganze Nacht, da wird aus der Wärme vielleicht sogar Hitze.“
Diese Worte hätten im Normalfall anzüglich geklungen. Sie wusste selbst nicht, warum sie in sein leises Lachen einfiel. Lag es daran, dass die Panik-Dämonen den Rückzug angetreten hatten? Mit seinem starken Arm im Nacken fühlte sie sich sicher. Und er beschützte sie nicht nur. Er vermittelte ihr eine Geborgenheit, die sie in dieser Intensität bei noch niemanden erfahren hatte. Lag das nur an dieser außergewöhnlichen Situation?
Seine Hand strich ihr über die Schulter, die Finger verfielen nach und nach in ein sanftes Streicheln, das sich schon bald auf Teile ihres Rückens auszudehnen begann. Zum ersten Mal nach all der überstandenen Todesangst und der lähmenden Kälte begann sie sich wohlzufühlen.
Wäre ich eine Katze, würde ich jetzt zu schnurren beginnen, kam es ihr in den Sinn und ließ sie schmunzeln. Und dann sagte sie etwas, wovon sie nicht wusste, warum es ihr über die Lippen kam. Der kleine Satz war automatisch und fast unbemerkt in ihr hochgestiegen und machte sich nun flüsternd selbstständig. „Du tust mir gut.“ Fast hätte sie sich vor Schreck auf den Mund geschlagen.
„So wie du mir“, sagte er und lachte wieder sein leises Lachen. „Da haben wir schon wieder etwas gemeinsam.“
Sie fühlte sich dichter an ihn herangezogen. Würde er versuchen, sich noch weiter zu nähern? Sie wusste, damit würde er alles zerstören, die Ruhe, die in ihr Herz einzuziehen begann, die Dankbarkeit, die sie für diesen Mann empfand und die Sympathie, die sie ihm im zunehmenden Maße entgegenbrachte. Nervös achtete sie auf jede seiner Bewegungen. Noch deutete nichts darauf hin, womit er signalisiert hätte, über das Streicheln ihres Rückens hinaus gehen zu wollen.
Mal sehen, wie er reagiert, dachte sie. Und laut: „Sag mal, hast du denn keine Partnerin, die sich jetzt Sorgen um dich macht?“
Die auf ihrer Haut tanzenden Fingerkuppen kamen abrupt zur Ruhe. Lisa fühlte, wie es in ihm zu arbeiten begann. Würde er sie jetzt anlügen?
Und da war es schon, dieses klare „Nein“, das er regelrecht in den Raum schleuderte. Schade, ihre Erwartung war eingetreten. Wie eine Lüge hatte das zwar nicht geklungen, aber glauben mochte sie ihm trotzdem nicht. Sie wusste, jetzt war sie am Zuge, um die Fronten zu klären. Sie führte ihren Mund dicht an sein Ohr, und es klang beinahe schuldbewusst, als sie nur zwei Worte flüsterte. „Ich habe eine Partnerin.“
Er schien dies zu ihrem Erstaunen ungerührt zur Kenntnis zu nehmen. Das Streicheln setzte wieder ein.
„Ich hätte mich auch gewundert, wenn eine so schöne Frau wie du solo durch ihr Leben stolpern müsste.“
Komisch. Wie gelassen er das nimmt. Da schwingen weder Resignation oder Enttäuschung in seiner Stimme. Oder hat er sie nicht ganz verstanden?
„Ich hatte dich nach einer Partnerin gefragt. Das hast du verneint, aber ich habe es bejaht“, sagte sie mit Nachdruck.
Er zuckte kurz mit den Schultern, stutzte dann und schien zu begreifen. Zu ihrer Verwunderung zog sich ein breites Grinsen über sein Gesicht.
„Da haben wir ja wieder etwas Gemeinsames. Ich überlege schon geraume Zeit, wie ich meinem Mann verklickern soll, dass ich mit einer wahnsinnig attraktiven Frau eine ganze Nacht im gleichen Bett gelegen habe.“
Das einsetzende Gelächter hatte für beide etwas Befreiendes.
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Ein Hauch von dir
Monika Schubert

Ich bin hellwach in dieser lauen Nacht,
noch warm von dir, von deinem Duft umgeben.
Und denk an deiner Fingerspitzen Macht
Auf meiner Haut, ein prickelndes Erleben.

Auf meinem Mund sitzt noch ein Kuss von dir,
Der zärtlich war und mir die Sinne raubte.
Er ist für mich des Glückes Elixier,
von dem ich mich sofort erobert glaubte.

Nun liege ich in dem zerwühlten Bett,
Allein, es darf statt dir mich sanft umarmen.
An meinem Hals spür ich dein Amulett,
Beschwert von Sehnsucht, die kennt kein Erbarmen.

Nur mir zeigt sich im Dunkeln dein Gesicht.
Der Stille Echo tönt – ich liebe dich –
Ein Strumpf, den du vergessen hast, verspricht:
Du kommst zurück und darauf freu ich mich.






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